Hodenlos
von Enno Ahrens (epiklord)

 

Ich war nur ein kleiner GI gewesen, damals in Vietnam. Als ein verirrtes Geschoss mir die Eier abgerissen hatte, wäre ich fast verblutet. Aber dann kam im letzten Moment noch Hilfe. Ich durfte in die Heimat zurück, ein traumatisierter Kastrierter, kampfunfähig; erhielt eine bescheidene Rente, keine angemessene Entschädigung angesichts meiner einst so prächtigen Glocken. Aber ich konnte mir in einem entbehrungsreichen Jahr genügend Geld zurücklegen, um den Flug nach Deutschland bezahlen zu können. Ich erfüllte mir so den Traum, das Herz Europas mit einem Mountainbike zu erkunden (Geht übrigens ganz gut ohne Nüsse. Nichts drückt.). Bin in Germanien hängen geblieben, lebe heute zurückgezogen in einem Kaff im Odenwald.

Einmal die Woche verlasse ich meine Wohnung, einen Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg, um Besorgungen zu machen und Proviant einzukaufen. Ich habe sogar einen Internetanschluss, verfolge auf dem Bildschirm das Treiben der Menschen über meiner unterirdischen Höhle. In so einem Loch bin ich seinerzeit entmannt und vom Vietcong gefoltert worden. Ich habe mich für diese Behausung entschieden, um mich dem Kampf gegen das Trauma zu stellen. Nun muss ich mit ansehen, wie die IS-Verbrecher hilflose Menschen enthaupten.

Manchmal wünschte ich, ich käme nach oben und die Menschen wären nicht mehr da, die gesamte Menschheit vertilgt von einem Virus. Dann aber bekomme ich Angst, denke daran, wie es Robinson Crusoe ergangen ist. Er hoffte, in die Zivilisation zurückzukehren. Und ich? Ich hoffe, dass mein W-LAN stabil bleibt. Denn ich habe nicht mal einen Freitag.

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