das wofür es sich zu leben lohnt
von riemsche

 

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Wir werden von Generation zu Generation älter, altern jedoch nicht gesund_ im Gegenteil. Männer haben heute eine durchschnittliche Lebenserwartung von knapp achtzig Jahren, Frauen sogar von über vierundachtzig_ Tendenz von Erhebung zu Erhebung steigend. Das letzte Viertel unseres Lebens verbringen wir leider vornehmlich in miserabler gesundheitlicher Verfassung. So ungefähr ab Sechzig, demnach noch vor dem Pensionsalter, beginnen jene chronischen Beschwerden, die wir uns durch eine entsprechende Lebensführung selbst zuzuschreiben haben, machen uns zunehmend zu schaffen, mindern unsere Lebensqualität, werfen Schatten aufs Privileg, ein zur Zeit hohes Alter erreichen zu können. Von klein auf steht uns _abgesehen von unkalkulierbaren Krankheiten und Unfällen_ an sich die Möglichkeit offen, ein langes Leben in akzeptabel körperlicher Verfassung zu führen. Das Wissen, Können sowie die nutritiven und medizinischen Voraussetzungen dafür stehen uns mittlerweile zur Verfügung. Doch die Lebensweise, die der Großteil von uns pflegt und die vielen bereits in der Kindheit antrainiert wird, macht derlei rosige Aussichten _ob sich dessen bewusst oder nicht_ zunichte.

In der Edo-Zeit (1603 – 1868), der längsten ununterbrochenen Friedensperiode der japanischen Geschichte_ einer Epoche, die kulturell wie intellektuell als Blütezeit Japans gilt, bildeten sich die vier Grundpfeiler des Ikigai. Die erfolgreiche Bewältigung unseres Daseins wird demnach als möglichst harmonisches Zusammenspiel der Komponenten Leidenschaft, Beruf, Berufung und Lebensfreude beschrieben. Vier Bestrebungen, die es in einem ausgewogenen Verhältnis in unser Leben zu integrieren und immer wieder auf ihre Relation, in der sie zueinander stehen, zu hinterfragen gilt. Beruf ist das, für dessen Ausübung ich entlohnt werde_ Berufung das, was ich als Individuum zur Gesellschaft beitragen kann, also sozusagen mein ehrenamtliches Tun. Leidenschaft beschreibt jene Hingabe, mit der ich mich Dingen zuwende, die mir Freude machen. Und die Lebensfreude ergibt sich schließlich als Folge jener Tätigkeit, die ich _sei s auf diese oder jene Art und Weise_ zu meistern gelernt habe.

Gepflegte Langeweile_ und damit die Möglichkeit zu uns selbst zu finden _sowie überlieferte Kulturtechniken wie Kochen, Lesen oder auch einfach das entspannte, auf kein Leistungsziel ausgerichtete Flanieren gehen in einer von Stress, Gier und Ersatzbefriedigungen geprägten Konsumgesellschaft verloren. Seit ein großer Teil der sozialen Kontakte ins Internet ausgelagert wurde, gleicht auch diese zwischenmenschliche Kommunikation einem Wettbewerb, in dem es darum geht, sich möglichst schnell und unentwegt als etwas Interessantes darzustellen. Wir bewegen uns zu wenig, verbringen viel zu viel Zeit vor Bildschirmen_ lassen uns von Anforderungen, die ausschließlich dem Gelderwerb dienen, in den BurnOut treiben und hecheln Scheinbedürfnissen hinterher. Während weltweit alle zehn Sekunden ein Kind an Unterernährung stirbt, vertilgen wir im jeweiligen Schlaraffenland in Rekordzeit Rekordmengen an nicht ausgewogener Ernährung, entsorgen was davon übrig_ indem s an Ort und Stelle liegen bleibt oder klopfen s in die adäquate Tonne.

Das Ikigai umfasst unsere Eingliederung in die Gesellschaft, unser Zusammenleben mit der Natur und individuelles Fortkommen_ legt eine Art Vertrag fest, den ich mit meiner Umwelt eingehe. Es beschreibt die Symbiose mit allen mich umgebenden Geschöpfen, die ihres dazu beitragen, mein Dasein mit Sinn zu erfüllen. Wer wertschätzt und im Gegenzug wertgeschätzt wird, schlägt Vereinsamung ein Schnippchen. Will doch jeder Mensch geliebt werden und lieben können, sein Leben möglichst dauerhaft glücklich und bei guter Gesundheit verbringen. Aller Anfang ist schwer_ Selbstreflexion: Was ist mir wirklich wichtig? Wo liegen meine Talente? In welchen Situationen fühle ich mich wohl, in welchen nicht? Welche Tätigkeiten erfüllen mich mit größter Freude und welchen Nutzen kann die Allgemeinheit aus meinen Fähigkeiten ziehen? Es nimmt Zeit in Anspruch, sich mit derartigen Fragen zu beschäftigen und die derzeit gültigen Antworten regelmäßig auf ihre Richtigkeit zu prüfen. Wie s Leben selbst ist auch Ikigai kein fixer Wert, befindet sich in steter Bewegung_ Veränderung. Weil s ne Suche nach Einklang mit mir selbst und meiner Umgebung ist, immer wieder adaptiert und aufs Neue unternommen werden muss, eine Philosophie, die mir _gern guter Hoffnung_ besonders zusagt.

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