am Schmökern
von riemsche

 

_____

Zu den Wundern des digitalen Zeitalters gehört die erstaunliche Tatsache, dass sich das elektronische Buch nicht durchsetzen konnte. Sein Anteil am Gesamtvolumen publizierter Texte ist seit Jahren konstant niedrig - anders als im Bereich der Musik und tagesaktuellen Medien scheint die Literatur davor gefeit, gesichtslos im Datenmeer zu versinken. Ein Buch ist mehr als eine Datei, durch Design und Gewicht ein sinnlich erfahrbarer, individueller Gegenstand – selbst dann, wenn er massenhaft produziert wird. Es hat ein Aussehen und eine Gestalt, entwickelt im jeweiligen Gebrauch eine Unverwechselbarkeit, hat Charakter. Kein Wunder, dass Bücher zu den beliebtesten Geschenktipps zählen, erlauben sie doch in besonderer Weise, dem Akt des Schenkens den Ausdruck persönlicher Verbundenheit zu verleihen. Infolgedessen Empfehlungen von Feuilletonisten und Influencern Folge zu leisten oder Werke zu verschenken, die Bestsellerlisten zieren und deren Autoren von Talkshow zu Talkshow gereicht werden, mag die Auswahl erleichtern – daran ist nichts Ehrenrühriges. Und dennoch liegt ein besonderer Reiz darin, auf literarische Entdeckungsreise zu gehen und Entlegenes zu schenken, kaum bekannte oder vernachlässigte Autoren, Gattungen, die jenseits von Spannungs- und Beziehungsliteratur angesiedelt sind – Lyrik zum Beispiel.

Das Gedicht ist in seiner unprätentiösen Art groß, es nimmt nicht viel Raum ein, ein Gedichtband zwingt niemanden dazu, ihn sofort von der ersten bis zur letzten Seite zu lesen. Das Lyrische hat Charisma, strahlt eine Intimität und Subjektivität aus, die es dazu prädestiniert, als persönliche Botschaft zu fungieren. Ob man diese akzeptiert, ist möglicherweise weniger eine Geschmacks- als vielmehr Charaktersache. Ein Gedicht erfordert zwar ein gewisses Maß an Konzentration, dafür offenbart es, was in und mit der Sprache an Kraft und Schönheit, Sensibilität und Wagnis, Klang und Rhythmus, Form und Gehalt möglich ist. Also auf ins Unbekannte, Fremde, Fremdsprachige.

Seit Jahren erscheinen _von der Öffentlichkeit nahezu unbemerkt_ bei Löcker in einer Edition des österreichischen PEN-Clubs außergewöhnliche Texte amerikanischer, französischer, vor allem aber italienischer Autoren. Verantwortlich für diese Reihe zeichnen Franziska und Hans Raimund, die zudem als virtuose und sensible Übersetzer wirken. Gerade bei Gedichten, wo es auf jede Nuance ankommt, zeigt sich, dass die Translation eine Kunst ist, die man nicht leichtfertig Maschinen überlassen sollte. Die geschmackvoll gestalteten, schmalen Bände überraschen in vielerlei Hinsicht. Dass Attilio Bertolucci, der Vater des berühmten Filmregisseurs, ein formidabler Lyriker war, mag ebenso erstaunen wie die sinnliche Klarheit der Gedichte von Mario Andrea Rigoni, dem Herausgeber der Schriften von Giacomo Leopardi. Eindringlich auch die berührenden Verse der Literaturwissenschaftlerin Elena Salibra. Angesichts aktueller Debatten über den alten und neuen Antisemitismus lohnt sich ein nachdenklicher Blick in die Aufzeichnungen von Dario Calimani, des Präsidenten der jüdischen Gemeinde von Venedig: Der Jude auf der Kippe. Der Titel einer Gedichtsammlung des einstigen Partisanen und späteren Parade-Intellektuellen Franco Fortini könnte als Motto über diesem ambitioniert, mit selbstlosem Engagement betriebenen Übersetzungsprojekt stehen_ »Nichts ist sicher, aber schreibe.« Dies gilt auch für das Lesen.

_____

Autorenplattform seit 13.04.2001. Zur Zeit haben 687 Autoren 5360 Beiträge veröffentlicht!