schlechthin schönreden
von riemsche

 

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In seiner Rede Enkṓmion eis Ēleíous aus dem späten 5. Jh. v. Chr. bezeichnet der altgriechische Rhetor Lehrer und Philosoph Gorgias von Leontinoi die Sprache als großen Vollbringer. Er selbst lebte auf Sizilien, blieb unverheiratet, reiste viel und wird den sogenannten Sophisten zugerechnet - einer heterogenen Gruppe von Menschen, die ihren Mitbürgern Bildung und in dem Zusammenhang nicht zuletzt die Redekunst vermitteln wollte_ zum Teil gegen Gebühr, was ihnen schon zu Lebzeiten massive Kritik bescherte. In besagter Rede verteidigt Gorgias die schöne Helena, deren Schuld am Ausbruch des trojanischen Krieges in der Antike Gegenstand hitzig geführter Diskussionen war. Immerhin folgte sie ihrem Entführer Paris eher frei_ als unfreiwillig nach Troja, nahm demnach so rein nebenbei einen blutigen Krieg und den Untergang der blühenden Metropole in Kauf. Die Kunst der Rede jedoch _und darum ging es Gorgias_ macht es möglich, diese schillernde Ikone in moralischer Hinsicht zu rehabilitieren.

Aber sollte die Rede an sich nicht der Wahrheit dienen? Nach Gorgias Ansicht existieren Wahrheit und Wissen als solche nicht über den Augenblick hinaus. Zumindest hätten die Menschen zu beidem keinen direkten Zugang. Noch heute oder besser gesagt_ heute erst recht, wird Rhetorik für vieles, was offensichtlich falsch läuft, verantwortlich gemacht. Wie Abhilfe schaffen? Sie auf ein Dasein als Dienstmagd der Philosophie zu reduzieren oder als ihre aufgeklärt denkende Schwester anzusehen, die mit moralischen Ansprüchen von Kommunikationspraktiken der Habermas-Schule fusioniert, ist auch nicht das Wahre. Diese Sicht lässt sich bei den Wortführern der medial aufbereiteten Philosophie, Literatur- und Naturwissenschaft beobachten. So hat sich der Philosoph Markus Gabriel dem sogenannt neuen Realismus verschrieben und ist davon überzeugt, Wahrheit und Wirklichkeit von Denkweisen unterscheiden zu können, die auf Wahrscheinliches, Fiktionales, mithin Irrationales setzen.

Angesichts diverser naiver Vorstellungen von Authentizität, die gegen diskreditierte Scheinwelten in Stellung gebracht werden, ist es nicht verwunderlich, dass rhetorische Begabung in Teilen der akademischen wie politischen Klasse bisweilen geradezu zum Anti-Ideal verkommen ist_ bloß keine postmodern Beliebigkeit, keine wie immer geartet Sprachkunst, die auf nichts als sich selbst fußt, nicht mit einer betont verbessert Welt hausieren geht, sondern nur_ redet. Rhetorik hat Skepsis zur Folge, eröffnet _wenn dann nur bedingt moralisch geläuterten Kommunikationspraktiken verpflichtet_ ungezügelt wildem Denken Räume - steht nicht nur denjenigen offen, die ihr bei entsprechend Nichtgefallen mit vernünftigen Argumenten beizukommen suchen.

Klingt nach einem Freibrief für Willkür und Manipulation, einem Tool für Skrupellose, die damit ihre Spielchen treiben. Ein Risiko, mit dem wer _will er denn offen sprechen_ leben lernen muss. Im Grunde formuliert das bereits Platons so simple wie brisante Diagnose: Eine Rhetorik, die nur auf Argumente setze, erreiche nicht alle Menschen. Die gute Rede müsse den unterschiedlichen Dispositionen der jeweiligen Zuhörer:innen gerecht werden. Um deren Schwächen bezüglich Erkenntnis möglichst überzeugend zu kompensieren, sind nicht-diskursive Mittel gestattet_ integrative und polarisierende Affekte und Nebenwirkungen logischerweise inklusive. Eine Rede, die s gewissermaßen in sich hat, ist in ihrem Verlauf somit beinahe zwangsläufig eine ständig zelebrierte Gratwanderung zwischen Überzeugen und Überreden, setzt diesen Zwiespalt auch in ihren veranlassenden Formen, dem sich überzeugen / überreden lassen, ständig aufs Neue mehr oder minder gekonnt in Szene.

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