Dialektische Denkmethode
von Reinhard Gobrecht (gobrecht)

 

Philosophischer Beitrag

In Platons Staat wird im Liniengleichnis deutlich, wo sichtbare Welt und denkbare Welt getrennt sind, dass die dialektisch Methode ganz zum Bereich des Denkbaren gehört. Dasjenige, welches der denkende Verstand unmittelbar selbst erfasst, ohne Zuhilfenahme der Anschauung und von den Anfangsstützpunkten, den Voraussetzungen, vordringend zum Voraussetzungslosen, nur durch Begriffe allein, dies ist Dialektik.

Das eigentliche Ziel der Dialektik, das eigentliche Ziel des Denkbaren, ist also das Voraussetzungslose, welches als Musterbild, als Idee eine Rolle spielt. Die Ideen im denkbaren Bereich sind Einheiten, sind Richtpunkte, die ihre jeweilige Vielheit in der Verwirklichung, im sichtbaren Bereich zusammenfassen.

Die Ideen sind das Voraussetzungslose und das Wahre, von denen man Top-Down, zu den implementierten Vielheiten, gehen kann. Zur genauen Erkenntnis der denkbaren Einheiten, der Ideen, ist nach Platon jedoch ein sogenannter Aufstieg erforderlich; geht man umgekehrt von den Ideen aus, kann man herabsteigen zu ihren Verwirklichungen.

Bei der dialektischen Methode geht es u. a. darum, eine Fähigkeit für den zusammenfassenden Überblick einer Sache zu gewinnen. Ein Ziel der dialektischen Methode ist nach Platon, unter Verzicht jeder Sinneswahrnehmung, zum eigentlichen Seienden der Idee selbst im Bunde mit der Wahrheit vorzudringen. Die dialektische Denkbewegung ist nach Platon also eine Einübung in die Schau der Wahrheit. Es geht um das Sich-Einüben des Denkens in eine Art geistige Schau der Ideen, als Gegenstände des Denkens, es geht um den geistigen Denkstoff. Denken bedeutet Sehen der Ideen. Was bedeutet das? Es bedeutet nicht die Konstruktion von sophistischen und sachfernen Begriffen, sondern die Fähigkeit das Sein der Ideen und ihre Wahrheit zu erkennen. In Platons Parmenides wird deutlich, dass Ideen Musterbilder und Einheiten sind.

Bei Plotin ist die Dialektik der wertvollste Teil der Philosophie, sie ist nicht nur ein Werkzeug des Philosophen; sie besteht nicht allein in Lehrsätzen und Regeln, sondern handelt vom Stoff des Seienden. Als eine Vorstufe zur Dialektik sieht Plotin die Mathematik, als eine Gewöhnung an das Unkörperliche.

Dialektik ist die Fähigkeit von einem Ding begrifflich auszusagen, was es ist, wodurch es sich zu anderem abgrenzt und was es mit anderem gemeinsam hat. Es ist zu fragen, ob das Ding zum Seienden gehört, zum Nichtseienden oder in eine ganz andere Welt? Ist es ewig oder zeitlich? Dies muss auf wissenschaftlicher Basis geschehen und nicht nur durch bloße Meinung. Die Dialektik muss nach einem Ergründen im Sinnlichen zum Geistigen vordringen. Im Geistigen geht es der Dialektik um Forschung und Wahrheit, sie versucht Ideen zu unterscheiden. Die logischen Regeln und die logische Forschung überlässt die Dialektik eher einer anderen Disziplin, der Logik.

Die Dialektik entnimmt ihre Prinzipien dem Geistigen. Die Ideen sind ja Musterbilder und deswegen selbst wahr. In der Mathematik und Logik sucht man nach Wahrheit als Übereinstimmung mit etwas anderem. Bei den reinen Ideen jedoch, ist die Wahrheit selbst mit der Idee verbunden.

Die dialektische Denkmethode berücksichtigt Gegensätzlichkeit und Wechselbeziehung zwischen Polen, Erscheinungen bzw. Sichtweisen. Sie schaut auf eine Ganzheit, einen Gesamtzusammenhang; differenziert, wenn nötig nach Sichtweisen bzw. nach Hinsichten; wägt ab zwischen Pro und Kontra, zwischen Bejahung und Verneinung. Dialektisch denken heißt, beweglich bleiben, was Gegensätze betrifft, und Wechselwirkungen berücksichtigen.

Die dialektische Methode betrachtet nach Möglichkeit die Ganzheit eines Problems. Was bedeutet Ganzheit? Ganzheit bedeutet, dass man nach dem Sinn, der Bedeutung und dem Inhalt im Zusammenhang fragt. Es geht also um den Kontext des Problems. Frege formulierte zu diesem Kontextprinzip einen Grundsatz, dass man nach der Bedeutung von Wörtern bzw. Begriffen im Satzzusammenhang fragt und nicht in ihrer Vereinzelung.

Die dialektische Methode wägt den Sachgehalt eines Problems ab und balanciert es aus. In der Wissenschaft kann man analytische und synthetische Verfahren für eine Problemstellung bzw. für eine Problemeinschätzung berücksichtigen. In der empirischen Welt gibt es jede Menge Gegensätze und damit Dialektik und Wechselbeziehung. In der empirischen Welt herrschen Bejahung und Verneinung, Denken und Erfahrung, Abwesenheit und Anwesenheit. In der empirischen Welt gibt es Konkretes und Abstraktes, Werden und Vergehen, Selbstbestimmung und Fremdbestimmung, Kollektivanteile und Individualanteile, Fehlerhaftigkeit und Perfektion.

Zwischen den Welten, hier insbesondere zwischen empirischer und geistiger Welt gibt es ebenfalls Gegensätze und damit auch Wechselbeziehungen und Gesamtzusammenhänge. Vergleicht man beide Welten hat man z. B. folgende Dialektik: Zeit und Ewigkeit, Bewegung und Ständigkeit, Raum-Zeit-Trennung und logische Trennung, Werden und Sein, das Manchmal und das Immer, etc. Während in der empirischen Welt Gegensätze an den Dingen haften, besitzen einzelne Ideen der geistigen Welt selber keine Gegensätze, denn eine Idee beschreibt dasjenige was sie ist. Man nennt dies auch Konstanz der Begriffe.

Dialektisch zu denken bedeutet scheinbare Widersprüche aufzuklären und zu differenzieren, d. h., ein Bestimmtes ist in jener Hinsicht so und so, in einer anderen Hinsicht anders (gegenteilig). Dialektisch denken bedeutet jedoch nicht gegen das Gesetz vom ausgeschlossenen Widerspruch zu verstoßen: Etwas kann nicht gleichzeitig und in gleicher Hinsicht Gegenteiliges sein oder Gegenteiliges bewirken. Dialektisch denken bedeutet in die Tiefe zu gehen, Phänomene zu analysieren und zu differenzieren, Sichtweisen zu unterscheiden, und wenn möglich durch Synthese Gesamtzusammenhänge und Wechselbeziehungen offen zu legen.

In der Logik kann man Gegensätzliches z. B. durch Entweder-Oder erfassen. Entweder-Oder bedeutet ein ausschließendes Oder und macht nur Sinn bei disjunkten Anteilen. Wenn etwas z. B. Gegenteiliges verursachen kann, dann hilft die dialektische Methode. Eine Pflanze kann z. B. heilbringend oder todbringend sein, je nach Höhe der Dosis. Bei unserem Beispiel haben wir ein Sowohl-Als-Auch, welches genauer durch die Dosis differenziert werden musss. Eine nur scheinbare Widersprüchlichkeit, aber eine Gegensätzlichkeit.

Dialektisch zu denken, bedeutet auch wissenschaftlich und vollständig Probleme zu durchdenken. Dabei ist es wichtig alle Ursachen oder Gründe einer Sache zu erkennen, statt monokausal multikausal alle Gründe zu betrachten. Was die Ursächlichkeit betrifft, spielen auch immer die Ursachenformen eine wichtige Rolle: Stoff-, Form-, Wirk- und Zweckursachen beschreiben Gesamtzusammenhänge. Das Warum und das Wozu können grundsätzlich verschieden sein.

Die Dialektik verhilft im Dialog zu widersprechen. Wir können in einem kritischen Dialog nach einer Lösung suchen, indem wir Pros und Kontras gegeneinander abwägen. Dialektisches Denken bedeutet dialogischer Widerspruch, jedoch nicht logischer Widerspruch. Dialektisch Denken ermöglicht auch eine Revision des zuvor Erkannten, und damit eine sukzessive Annäherung an die Wahrheit und eine Verbesserung des vorher Erkannten.

Dialektisches Denken ist inhaltsbezogen, intensional; logisch denken hingegen bezieht sich eher auf die Form und ist extensional, wenn man von einer Inhaltslogik, wie etwa der Syllogistik absieht. Beide Methoden die logische und die dialektische ergänzen sich, jede hat bestimmte Vorzüge. Ein Widersprechen im Dialog, ein Ausbalancieren, kann sehr hilfreich und nützlich sein, trotzdem müssen die gewonnen Erkenntnisse und Ergebnisse widerspruchsfrei sein. Enthalten aber Erkenntnisse Widersprüchliches, kann das Chaos seinen Lauf nehmen, denn schließlich kann aus Widersprüchlichem alles gefolgert werden, sowohl ein Satz A als auch ein Satz ~A.

Dialektisches Denken bedeutet prozesshaft, wechselwirkend, einerseits in Gegensätzen und andererseits in Zusammenhängen kritisch zu denken, Ursachen im Sinne des Woraus zu ergründen, aber auch nach Sinn und Zweck zu fragen. Eine synthetische Dialektik hat als Ziel eine Einheit, strebt also eine Einheit in Form einer Synthese an. Eine antithetische Dialektik macht Gegensätzlichkeiten sichtbar und lässt sie bestehen, wenn sie nicht zu vereinheitlichen sind.

Verschiedene Sichtweisen können gegensätzlich sein, und nicht immer muss eine Synthese möglich sein. Es kann hilfreich sein, verschiedene Welten auseinanderzuhalten und auseinanderzubelassen. Ein Landschaftsbild und eine Landschaft gehören verschiedenen Welten an, eine künstliche Synthetisierung muss hier nicht unbedingt sinnvoll sein. Zwischen einem Urbild und einem Bild können Welten liegen, Welten, die keine gemeinsamen Schnittmengen besitzen, sondern nur Schnittstellen durch eine Abbildung. Dänemark in Shakespeares Hamlet ist natürlich ein ganz anderes, als das Dänemark als Mitglied der EU in der Realwelt. Das eine ist ein Bild eines Staates, das andere ein realer Staat. Vereinigt man stets beides in einer Menge, die Bilder mit den realen Gegenständen, kann eine All-Welt entstehen, eine Allmenge im Worst Case, die mehr vernebelt, als sie Sinn macht. Allmengen sind illegitime Gesamtheiten, sie können zu Selbstreferenzen führen und dadurch Paradoxa erzeugen.

Dialektisch denken und abwägen, bedeutet jedoch nicht sophistisches Zerpflücken und kaputt analysieren. Eine Begrenzung auf Wesentliches ist auch immer von Nöten. Dialektisch denken, heißt auch dialogisch denken mit Augenmaß auf das Ganze. Sinn und Zweck der Dialektik muss sein, der Philosophie und Wissenschaft anzugehören und nicht der Rhetorik zu dienen.

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