timing
von riemsche

 

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ab und zu taucht s auf
das kind das ich mal war
und mit ihm ein bestimmter moment
geruch eine empfindung
die zeit nimmt alles mit sagt man
ist aller dinge anfang
ich war bin werde sein
und ohne sie
wär ich ein niemand
s gefühlt große jetzt
ist dieser tage weg
wohin
was ist das_ zeit
eine dimension eine illusion
nur s wort für das rätsel
dass sich alles verändert und vergeht
mal schnell mal langsam und
im rückblick gegen den uhrzeigersinn

ein ort hat drei koordinaten
höhe länge mal breite
wir können ihn aufsuchen
so oft wir wollen
aber zu nem bestimmten zeitpunkt
können wir weder vor noch zurück
denn der ist_
und verschwindet

wenn der wecker läutet
alarmzustand
der hält_ willst nichts versäumen
den ganzen tag über an
das leben die zeit
ein sammelsurium von augenblicken
kein verweilen
zeit kannst nicht umklammern
sie verrinnt_ ist
dabei ebenso flüchtig wie gefräßig
uns fehlt s organ
für n sinn dafür
aber wir spüren sie_ immer
wie kommt das

die gegenwart ist nicht von dauer
liegt zwischen zukunft und vergangenheit
augustinus beschrieb 397 die subjektive
in deren einzigartigkeit und den moment
der laut maßstab so um die zwei
bis drei sekunden dauert

das jetzt der augenblick
ist ne vom gehirn erzeugt erfahrung
denn alle informationen
die unsere sinne wahrnehmen
werden dort ununterbrochen gesammelt
ausgewertet in phasen gebündelt
und abgespeichert
alle zwei drei sekunden entsteht
auf die art subjektive gegenwart

* der mond ist aufgegangen
die goldnen sternlein prangen
am himmel hell und klar
* herr_ es ist zeit
der sommer war sehr groß
* mit gelben birnen hänget
und voll mit wilden rosen
das land in den see
* ihr naht euch wieder_ schwankende gestalten
die früh sich einst dem trüben blick gezeigt
in allen sprachen dieselbe
zeitlich segmentierung
poesie als widerspiegelung
eines normalen mechanismus
des menschlichen gehirns

begleitend test_ folge konzentriert
der drehung eines würfels
es dauert nicht lang und
die richtung ändert sich
ob wir wollen oder nicht
s gehirn versucht ne neuinterpretation

gibt wer jemandem die hand und hält sie
länger wie drei sekunden fest
stellt sich ne emotionale reaktion ein
es ist einem un_oder besonders angenehm
reicht man sie wem zu kurz
fühlt sich s irgendwie merkwürdig an
zeitliche dynamik
bettet natürlichen bewegungsablauf
je nach dem in wohlbefinden oder nicht

wenn nichts passiert
ist sie besonders präsent_ die zeit
dann hat sie unsere volle aufmerksamkeit
s wird langweilig
man spürt s grundrauschen der existenz
trotzdem kann sich der unruhige mensch
zukünftiges und vergangenes ausmalen
und so in jedem wartezimmer
die größten abenteuer bestehen

das einzige was uns wirklich
von anderen unterscheidet
ist die möglichkeit zuzuwarten
zwischen ich will etwas tun
und ich erfülle es jetzt
ne pause einzulegen

zeit ist unsichtbar
wir erleben sie nur indirekt
als veränderung
erst ist das_ dann das und
dann erst das
ohne nacheinander
gäb s nichts_ nicht mal gedanken
herrschte also stille
vor der zeit
kaum vorstellbar
sind wir doch dauernd unterwegs
von moment zu moment
in jede erdenkliche richtung
und s herz macht tick tack
dieser moment bevor s losgeht
wird in völliger stille geboren
ist an spannung nicht zu überbieten

musik ist materialisierte zeit
ein spiel mit wachgerufenen erinnerungen
erwartungen oder gegenwärtigkeit
in der 7. symphonie von beethoven
nimmt eine scheinbar uralt melodie
im 2. satz fahrt auf findet aus m echoraum
der geschichte in ein jetzt leicht
beschwingt gehör fließt vor sich hin
stoppt vor m akkord
der blick wird ein anderer
das stück legt an tempo zu
mündet in den dritten

zurück zum anfang
und der war zauberhaft
klar ist_ jetzt ist sie da die welt
sucht den beginn
wie s momentan ausschaut
ist s universum am expandieren
nu dann war s demnach gestern kleiner
und denk ich s mir in folge
bis zur kleinsten kausalen zurück
verbinde quantenmechanik und allgemeine
relativitätstheorie
könnt ich gemäß berechnung nach fünf
hoch zehn minus vierundvierzig sekunden
die zeit von vorn beginnen lassen

alles hat eine ursache
glauben wir
können nicht anders
ein anfang ohne ein davor
übersteigt vorhanden denkvermögen
physik will s große alles
das uns umgibt vermessen
aber nicht alles ist messbar
physiker hassen die zeit
lassen sie in ihren gleichungen
nach belieben vor und
rückwärts laufen
werden trotzdem laufend älter
als ob s verschiedene formen gäbe
denken sich da stimmt was nicht

ne uhr gliedert s ereignis segmentiert
gibt in vierundzwanzig zonen
eine weltzeit an
diese ist ein konstrukt
früher war es in jeder stadt
zu einer unterschiedlichen zeit zwölfe
abhängig vom höchststand der sonne
zeitmessung ist relativ
einstein erklärte das laien so_
bewegte ich mich mit lichtgeschwindigkeit
durch den raum wäre die sekunde
auf meiner armbanduhr so gedehnt
dass gar keine zeit verginge
s dumme daran ist nur
wirklich erlebbar ist das nicht

die zeit rückwärts drehen würde heißen
buchstäblich alles also
jedes teilchen in einem universum
in genau den zustand zu versetzen
in dem s mal war
wär da nicht die entropie_problematik
mehr an energie aufwenden zu müssen
als uns universell zur verfügung steht
man müsste sich demnach energie
von außerhalb unseres universums besorgen
und damit hat sich die sache
wohl oder übel erledigt

und doch_ man kann in der zeit reisen
erinnern heißt ja
zurückkehren in ein vergangen jetzt
ist vergegenwärtigung
nur die intensiven momente
bleiben in uns_ die schmerzhaften
und die besonders leichten
unser ich ist deren erzählung
unser leben ein zeitspeicher
sich in d vergangenheit hinein
projizieren produziert identität
ich selber sein
sich dort entdecken
definiert mich als mein doppelgänger
das tragische in dem zusammenhang
demenz
nicht der gedächtnisverlust per sé
sondern s sich nicht mehr finden können
erloschene erinnerungen
keinen bezug mehr zu sich selber haben

ein guter mensch sein
das ist der anspruch
und dann drängelt man doch
hupt hat angst zu spät zu kommen
macht druck
jeder muss schauen wo er bleibt
warum leben wir dieses tempo
und jeder klagt ihm fehle die zeit
für das ihm wirklich wichtige
diese diskrepanz zwischen unerbittlich
gültig globaler uhrzeit und
dem eigenen inneren zeitempfinden
wer entscheidet in meinem leben darüber
wie lange etwas für mich dauern darf
die zeit ist aus den fugen
beschleunigt wird knapp
wir müssen zu viel in zu wenig

alles unglück der menschen rührt daher
dass sie unfähig sind ruhig
in einem zimmer zu verweilen
lehnt sich der philosoph bles pascal
schulmeisternd aus dem fenster
selbst in der bibel steht
alles hat seine zeit
wohlgemerkt_ Seine zeit
wer immer auch gemeint ist

wie war das vorhin oder damals
fragt es in uns
und wie wird das werden
wir sind so gemacht
immer am denken
das können wir nicht ändern
was wir ändern können ist
lassen wir uns davon ablenken
oder eben nicht
ganz bei der sache sein
wohlgemerkt bei einer sache
ist für den an sich
unruhigen das schwierigste
im jetzt lässt sich die zukunft
nicht gestalten nichts optimieren
im jetzt ist man ja schon da
egal wie egal wo
und weil uns das nicht egal ist
verpassen wir s_ dauernd

im hier und jetzt und
schon vorbei der moment ist
ein schnell oder langsam welcher
zeit ein subjektiv gefühl von dauer
jedes kunstwerk dauert zeit
und ist doch selbst ein augenblick
man fällt aus der eigenen gegenwart
und taucht in eine andere ein
in der kunst spielt der mensch mit zeit
im wirklichen leben ist s umgekehrt
vielleicht interessiert uns zeit auch
nur weil wir sterben müssen
s wird demnach nicht ewig dauern
trotzdem_ kein grund sich zu beeilen

gerade eben noch
hat man mit seinem schatten gespielt
alles war jetzt und staunen ohne bilanz
zeit nicht nur deshalb kostbar
weil s ne begrenzte ist
das ist die sehnsucht
keine heimat haben in der zeit
vielleicht gibt es ja doch
so was wie ewigkeit
etwas das altersbedingt schrittweisem
kontrollverlust sinn verleiht und
rein nichts mit von dauer zu tun hat

langzeitbelichtung
konstruiert und dekonstruiert s bild
permanent bewegt blumen in der vase
wenn man lange genug hinschaut
trennt bleibendes von flüchtigem
s bin von war und gewesen sein
dazwischen hab ich alle zeit der welt
wenn ich mich zeitweise selbst
vergesse legt die ewigkeit
sanft ihren arm um mich_ das geht
obwohl bis ich nen punkt mach
ne halbe stund vergangen ist.

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