Am Seebichl
von Hans ibins (ibins)

 

AM SEEBICHL

I
m Nachkriegswinter von 1953 waren die Kinderzimmer anders als heute, aber auch angefüllt. Keine Schränke voll Plastikspielzeug, Spielcomputer, Sportausrüstung, Frühlings-, Sommer-, Herbst- und Winterbekleidung. Keine fahrbaren Elektroautos, keine Miniatur-Erlebnisparks verstellten den 10 m2 kleinen Raum, den meine 2 Jahre ältere Schwester und mein kleiner Bruder mit mir teilten. So erübrigten sich auch die Funkgeräte oder Handys, die heute üblicherweise den Kontakt zwischen den Geschwistern in den selbstverständlich getrennten Zimmern ermöglichen.
In unser Kämmerchen passten damals sage und schreibe 3 Betten und eine Kommode. Die Matratzen waren dreiteilig und mit Rosshaar gefüllt. Meine Wintergarderobe bestand aus einem selbst geschneiderten Wollmantel aus Wehrmachtsloden, den selbst gestrickten Fäustlingen und meinem Stolz, einer grünen Zipfelmütze.
Der In-Sport von damals war im Winter Rodeln. So zog ich mit meinen Geschwistern und der alten Rodel, die wenn nicht 2, dann mindestens einen Weltkrieg überlebt hatte, bei klirrender Kälte vorbei an 2 Bauerhöfen und dem alten Gasthaus Seewirt hinaus zum Seebichl.
Genau dort, wo sich heute die südliche Einfahrt zum großen Einkaufszentrum DEZ befindet, lag unser Hügel. Er war gerade mal 10,15 Meter hoch. Die Kristalle des frisch gefallenen Schnees glitzerten in den ersten Sonnenstrahlen des Morgens. Gemeinsam mit unseren Nachbarskindern wurde erst mal präpariert, damit es etwas flotter bergab ging. Und weil gerades Hinunterfahren bald zu langweilig wurde, erfanden wir immer neue Bereicherungen.
Springen über die Schanze, verkehrt auf die Rodel setzen, schließlich verkehrt auf die Rodel setzen und die Zipfelmütze über die Augen ziehen. Das musste ich auch probieren. Schnell den Hügel rauf und los ging die rasende Fahrt. Aber was war da plötzlich? Schon war der steilste Teil des Hügels überwunden, ich befand mich bereits im Auslauf, dann ein fürchterliches Krachen. War es eine riesengroße Faust, die meine Fahrt abrupt von 20 km/h auf 0 herunterbremste? War es die Rodel, die unmotiviert statt rückwärts hinunter wieder vorwärts bergauf fuhr und gleichzeitig in 6 Holzspreißel zerbrach. Nein, natürlich war es die gut einen halben Meter hohe Grundmauer des verfallenen Stadels, die schon immer da stand und der man bei Normalabfahrt ohne Augenbinde automatisch ausgewichen war. Aber das realisierte ich erst später.
Im Moment des Aufpralls hörte ich nur das Bersten des Holzes, mein übermütiges Gejohle während der tollen Rückwärtsfahrt war schlagartig verstummt, wurde mir gesagt. Ich hingegen bemerkte lediglich, dass immer mehr Blutstropfen den Schnee um mich herum rot färbten, und brach darob in lautes Wehgeschrei aus. Alle waren besorgt um mich. Schwester Renate, Bruder Robert, Nachbars Luis und Konrad zogen mich mit ihrer Rodel nach Hause. Aus Mund und Nase floss Blut im Strömen, die durchgebissene, dick anschwellende Zunge konnte nur mehr unverständliche Wortfetzen hervorbringen. Ich schlotterte vor Kälte und weinte bitterlich. Meine Mutter steckte meinen blutüberströmten Kopf gleich ganz unter die lauwarme Brause. Der Schock ließ nach, der Schmerz wurde stärker. Aber Kinderwunden heilen bekanntlich schnell, das Nasenbluten stoppte bald, die Zunge verheilte nach ein paar Tagen.

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