Ahoi!
von Michael R. Gärtner (mrgaertner)

 

Eine Amsel klingt immer etwas traurig. Besonders, wenn sie abends singt, denn abends geschieht immer das gleiche. Zähne putzen, Socken aus, sich schnell noch was wünschen, bevor die Rolladen runter gehen.
Die Amsel sitzt da, über dem schmalen, leisen Plätscherbach vor meinem Fenster, auf einem Zweig, der mit ihr schaukelt - mal mehr, mal weniger. Ihr Lied ist immer gleich. Alle können es hören, aber niemand kann es verstehen. Weil sie es täglich singt, trägt es für mich den Namen immer. Das Wort immer macht mir Angst. Weil der Vogel, den ich dort sehe, jeden Sommer ein anderer ist, der das alte Lied immer weiter singt. Niemand hätte mir je sagen dürfen, das eine Amsel nicht länger lebt. Eine Amsel ist also alle Amseln. Ein schwarzer Vogel, der ewig weiter lebt, auf diesem Zweig vor meinem Fenster.
Die Steine darunter am Bach sind anders. Sie sind klein und manchen fallen sie gar nicht besonders auf. Dabei können mehrere zusammen, wenn wir sie stapeln, pressen und die Lücken mit Sand füllen, das Wasser im Bach anhalten. Wir machen das zu fünft – Karl, Günther, Joseph, Theo und ich. Entweder barfuß oder in gelben Gummistiefeln. Oft kriegen wir Ärger, nicht weil wir die Steine in den Bach werfen und uns nass spritzen, oder das Wasser am Staudamm steigt und in unseren Garten läuft, sondern weil wir alle so laut dabei schreien - und mein Vater hat sein Büro direkt an der Ecke. Warum das so viel Spaß macht? Keine Ahnung... Vielleicht macht Sommer immer Spaß. Das Wasser ist nass und kalt, die Sonne ist heiß. Wir denken, dass ein riesiger See daraus werden kann, wenn wir weiter machen. Mehr Steine, höher, und wenn dann Regen kommt, - viel Regen -, dann lassen wir erst unsere Papierboote durch den ganzen Garten schwimmen und irgendwann sitzen wir auf einem großen, echten Segelboot, auf einem ganz normalen See, wie wir ihn aus dem Urlaub kennen. Einer ist der Kapitän. Wir müssen ihn bestimmen, denn einer ist immer der Kapitän, der mit dem Steuerrad gegen den Sturm kämpft oder mit den Kanonen Piraten verjagt. Bei uns ist das Karl. Er ist ein Jahr älter als ich und hat die größten Muskeln an den Armen. Er sagt, dass wir eine Flagge brauchen. Wir nehmen einen alten Lappen aus der Waschküche und binden ihn an einen Stock. Der steckt in unserem Floß, das wir aus Baumstämmen bauen. Das ist ein schlimmer Tag. Theo kriegt einen Ast ins Auge – und ich den Stamm auf den Fuß, so dass mein rechter Zeh blau wird.
Der Winter kommt. Es schneit. Bis auf ganz wenig Wasser friert der ganze Bach ein. Wir denken, dass er nie wieder so groß wird, dass wir nach England kommen. Einen Motor haben wir noch nicht, aber vielleicht kauft sich jemand einen neuen Rasenmäher und wir können den alten nehmen... Wenn nicht, dann segeln wir mit Bettüchern. Wir stimmen ab, und alle sind dafür.
Endlich ist es nicht mehr kalt. Ich bin als erster am Bach und sammele Steine. Günther und Joseph dürfen nicht, sie müssen Mathe lernen. Theo hat keine Lust, und Karl sagt, der Bach ist viel zu klein, um ein Meer zu werden. Was?! Aber wir haben doch abgestimmt. Ja, schon, aber. Aber was? Ich sehe, dass er jetzt einen Kopf größer ist als ich und bewundere unseren Kapitän. Mit ihm am Steuer kommen wir bald nach England. Noch in diesem Sommer! Aber Karl sagt, dass das nicht geht. Dass ich zu klein bin, um das zu verstehen – was mich wütend macht. Ich will wissen, was er meint! Karl hat im Sachkundeunterricht gelernt, dass ein Bach und ein Meer etwas völlig anderes ist. Die Lehrerin sagt, dass aus einem Bach kein Meer werden kann, und dieser kleine Bach in unserer Stadt gar nichts ausrichten kann. Karl findet den Bach ab sofort langweilig. Ein Pipibach, wie er sagt. Was soll ich jetzt bloß ohne Kapitän und Mannschaft machen? Ich bin wütend auf die Sachkundelehrerin. Eine Hexe, die Träume kaputt macht.

Fünfzehn Jahre später habe ich ein neues Wort entdeckt: Sehnsucht. Ich habe im ersten Semester Charlotte kennen gelernt. Wir haben uns ein Haus am Meer gemietet und essen zum Frühstück Feigen. Kaum vorstellbar, dass wir hier so entspannt sitzen können. Das Meer ist völlig unbewegt, ein glatter Spiegel mit zarten Federwölkchen. In Thailand hat es bei einem Tsunami Tote gegeben. Auf Stromboli wird an einem Frühwarnsystem für Seebeben gearbeitet. Wir sind beide angehende Meeresbiologen und tauschen uns mit anderen jungen Forschern aus. Noch wissen wir nicht viel, obwohl wir wissenschaftlich arbeiten. Uns reicht das, denn wir leben in der Illusion, dass wir uns ewig lieben werden. Amseln habe ich auf Stromboli noch nicht gehört – und ich vermisse sie auch nicht.

Wieder sind zwanzig Jahre vergangen, ich fahre vorübergehend Taxi in Berlin, weil ich auf die Finanzierung eines Forschungsauftrages warte. In Tegel steigt ein Araber zu, der bis zum Potsdamer Platz, wo er aussteigt und eines der Bürogebäude betritt, ununterbrochen telefoniert. Ich beobachte ihn im Rückspiegel, frage mich, an wen oder was er wohl glaubt - und denke: besser Allah als nichts, denn wenn da gar nichts ist, dann wird im Altenheim auf dem Nachttisch nicht mal eine Kerze brennen, so wie auf keiner Kirmes im dreckigen Schlamm ein Lebkuchenherz liegt. Charlotte hat versucht, die Haltung von Delphinen in Zoos verbieten zu lassen. Sie hat geforscht, Unterschriften gesammelt, einen Verein gegründet, hat gekämpft, wir haben uns aus den Augen verloren, uns wieder gefunden, erobert, geliebt – und jetzt ist sie tot. Krebs.

Es ist mehr Pflicht als Sehnsucht, dass ich meine Eltern besuche. Das Büro im Haus ist jetzt Gästezimmer, die Ruhe ist fast unerträglich und der Gesang der Amsel bedrückender denn je. Wie viele Amseln werden schon auf diesem einen Zweig gesessen und ihr immer gleiches Lied geträllert haben. Mein Vater ist alt, seine Reaktionen sind verlangsamt, ich werde der Nächste sein.
Es ist Sommer, aber es regnet und donnert. Das sind nicht die Sommergewitter von damals. Klar waren wir enttäuscht, wenn wir so plötzlich das Freibad verlassen mussten. Wenn es blitzte und wir nicht weiter zusehen durften, um herauszufinden, was dort genau vorsich ging. Doch diesmal war alles anders. Es gab eine Wetterwarnung, der Rhein war nach täglich heftigen Regenfällen über die Ufer getreten. Unser Ort hatte nur den Bach, der so klein war, dass selbst Kinder an seiner Magie zu zweifeln begannen, sobald sie in die Schule kamen.
Der Bach schwoll an wie damals, er flutete unseren Garten. Keiner unserer Steine hätte ihn stoppen können. Der Pegel stieg und stieg. Unser Floß würde mit wehender Flagge zwischen den Bäume durchschießen. Ein reissender Strom, unvorstellbar, fantastisch! Das kleine etwas bäumte sich auf zu einer tollwütigen Bestie, die alles verschlang: Gartenzäune, Garagen, Autos, sogar ganze Brückenpfeiler ergaben sich seufzend den mörderischen Wassermassen, die wir uns einst nichtsahnend erträumt hatten. Das war lange, bevor wir die erste Physikstunde hatten. Und noch viel länger, bevor der Klimawandel die Meteorologen an sich und ihrer Kunst zweifeln ließ.
Karl war unser Kapitän gewesen. Einstimmig gewählt, weil er ein Jahr älter war und den stärksten Bizeps hatte. Er war im öffentlichen Dienst gelandet. Als Ingenieur. Krisensicher. Eine Frau, zwei Kinder. Sein einziges Laster waren die Zigaretten, die er im Keller heimlich rauchte. Als die Flut kam, erlosch zuerst die Zigarette. Unvorstellbar, dass unser Kapitän das nicht kommen sehen hatte. Aber das große Geheimnis ist wieder entflammt, denke ich, als ich das Schäufelchen Erde auf den Sarg rieseln lasse. Endlich kann ich wieder an etwas glauben.

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