Schall und Rauch 3
von Sabine Herzke (melody)

 

2. Woche

8. Dezember, Sonntag
„Kommst du frühstücken?“ fragte Lucy. Sie stand vor Kevins Zimmertür, seit ungefähr fünf Minuten, und versuchte ihren Bruder davon zu überzeugen rauszukommen.
Unwilliges Brummen.
„Du kannst Papa nicht aus dem Weg gehen.“
„Na und? Ich ess später was.“
Lucy zuckte mit den Schultern. „Wie du willst.“
Als sie die Küche betrat, schien dort alles in Ordnung zu sein. Am Adventskranz brannten zwei Kerzen. Martin machte Kaffee. Carina deckte den Tisch.
„Morgen.“
„Guten Morgen, mein Schatz.“
Lucy sah ihre Mutter bei dem Ausdruck schräg an und nahm die Marmeladengläser entgegen, die sie ihr reichte.
„Wo ist Kevin?“ fragte Martin.
Lucy zuckte zusammen. Er hörte sich genauso an wie am Tag zuvor.
„In seinem Zimmer.“
„Lucy, hol ihn doch bitte.“
Carina hörte sich erschöpft an.
„Hab ich schon versucht. Hol ihn doch selber.“
„Dann bekommt er eben auch kein Frühstück“, sagte Martin und stellte den Kaffee auf den Tisch. „Guten Appetit.“
„Gehst du nicht zu ihm?“
„Nein“, erwiderte er kurz angebunden.

Kevin hockte auf seinem Zimmer. Er hörte seine Schwester und seine Eltern in der Küche. Sie lachten sogar einmal über etwas. Er würde nicht nach unten gehen. Auf gar keinen Fall.

„Heute gehen wir auf den Weihnachtsmarkt“, sagte Carina. „Und wir besuchen mal wieder die Familie. Oma hat zum Kaffee eingeladen. Alle wollen kommen.“
Lucy stöhnte.
„Nein. Ich geh da nicht hin! Ich komm nicht mit zum Weihnachtsmarkt und ich geh auch nicht zu Oma.“
„Und was hast du dann vor?“
„Ich bin verabredet. Mehr geht dich nichts an.“
Martin hob den Kopf. „Mit wem?“
„Dich geht das auch nichts an.“
Martin stand auf. „Ich versuche Kevin aus seiner Höhle zu holen.“
„Viel Glück.“
Als er weg war, herrschte Stille in der Küche.
„Wer ist es, Lucy?“
„Mama!“
Oben polterte es. Dann schrien sich zwei Männer an.
„Oh, gut“, sagte Lucy. „Vielleicht kriegen sie sich ja wieder ein.“

Sie führten ein langes Gespräch. Am Ende waren sie noch nicht die besten Freunde, aber sie redeten immerhin wieder miteinander.
„Wir fahren heute Nachmittag ins Gewerbegebiet. Und gehen danach noch auf den Weihnachtsmarkt“, verkündete Martin beim Mittagessen.
„Wer?“
„Wir“, sagte Kevin.
Lucy und Carina sahen sich an.
„Schön, dass ihr euch wieder versteht.“
„Dann kommst du mit zu Oma?“
„Nein Mama. Ich bin verabredet. Das hatte ich dir auch gesagt. Vielleicht sehen wir uns später auf dem Weihnachtsmarkt.“
Martin langte nach Carinas Hand und drückte sie sanft. Die Kinder waren groß geworden. Sie ließen sich nichts mehr sagen.

Sie nahmen den Wagen. Kevin lotste seinen Vater quer durchs Gewerbegebiet, bis sie in der Nähe des Komplexes einen Parkplatz fanden. Sie sprachen nicht, als sie hinüber gingen.
„Das hier ist es also?“
„Ja.“
Sie gingen langsam drauf zu. Bisher war keiner gekommen, um die Wände zu reinigen.
Kevin blieb vor seiner Wand stehen. Martin sagte nichts. Er schaute sich das Bild an. Ging ein paar Schritte davon weg. Betrachtete es aus der Ferne, ging ganz nah ran.
Kevin stand nervös daneben. Martin ließ sich Zeit. In der Ferne rauschte der Verkehr. Im Viertel war am Sonntag nichts los. Und dann holte Martin seine Kamera heraus und fotografierte das Graffiti.
„Papa? Fotografierst du das etwa?“
„Fürs Familienalbum.“
„Ich dachte, du bist stinksauer auf mich, weil ich ’n Krimineller bin.“
„Das bin ich auch.“
„Aber?“
„Du bist auch gut. Du kannst zeichnen. Es wäre mir nur lieber, wenn du das legal machen würdest.“
Kevin spannte den Kiefer an. Er würde weiter sprayen, egal was sein Vater davon hielt.

Carina fuhr schließlich allein zu ihren Eltern.
„Wo ist denn Martin? Wo sind Kevin und Lucy? Und wann kommt Chantal endlich nach Hause?“
„Mama, bitte!“
Carina ließ sich von ihrem Vater erschöpft den Mantel abnehmen und begrüßte ihre Geschwister.
„Wo sind deine Leute?“
Carina rollte mit den Augen.
„Nicht hier“, sagte sie. „Meine liebe Familie war der Ansicht, dass sie besseres zu tun hat!“
„Aber nachher auf dem Weihnachtsmarkt sehen wir sie doch bestimmt?“ bohrte Stella nach.
Carina kreuzte die Finger im Rücken. „Ganz sicher“, versprach sie ihrer Nichte.
„Warum ist Chantal nicht hier? Carina, wie geht ihr nur mit euren Kindern um?“
„Mama. Chantal hat das ganz allein entschieden. Ich habe sie einige Male gefragt, aber sie sagte, sie wär noch nicht soweit, wieder nach Hause zu kommen.“
Ihre Mutter verzog missbilligend das Gesicht.
„Das Mädchen hat ja noch nicht einmal eine Ausbildung gemacht! Also, ich sage dir, wenn sie meine Tochter wäre…“
Carina hörte nicht weiter zu. Dieses Gespräch hatten sie schon dutzende Male geführt.

Lucy stieß atemlos die Tür zu ihrem Stammcafé auf und schaute sich um. Er saß im hinteren Bereich hinter einer geschnitzten Abtrennung und schaute auf, als sie zum Tisch kam, stand auf.
„Lucy!“
„Tim.“
Er umarmte sie.
„Tut mir leid, meine Mutter hat mich aufgehalten.“
„Schon gut. Was willst du trinken?“
Ungefähr eine Stunde später saßen sie Arm in Arm noch immer im Café, hatten nachbestellt und erzählten sich kleine Geschichten.
„Wenn es nachher dunkel wird, gehen wir auf den Weihnachtsmarkt, was hältst du davon?“ fragte Tim.
„Gute Idee. Aber dann treffen wir bestimmt auf meine ganze Familie.“
„Auf meine auch.“
Sie lächelten sich verschwörerisch an.
„Das schaffen wir schon.“
Tim nahm ihr Gesicht in die Hände und küsste sie zärtlich.
„Das war schick, du so am Deich am ackern.“
„Willst du Ärger?“ Sie zog die Augenbrauen hoch.
„Nein, wieso?“
„Mein Vater hatte mich dazu verdonnert.“ Sie zog eine Grimasse. „Ich sollte mal richtige Arbeit machen. Hat mir die Fingernägel ruiniert.“
Tim lachte. Sie zog ihn zu sich heran und grub ihm besagte Fingernägel in den Oberschenkel, als sie ihn küsste.
„Aua!“ sagte er, immer noch grinsend.

Der Weihnachtsmarkt fand auf dem Rathausplatz statt. Tim hatte Lucy den Arm um die Schulter gelegt, sie schlenderten langsam von Bude zu Stand und genossen die Atmosphäre. Zwischen zwei Buden war ein Bogen aus Tannenzweigen gespannt. Tim schaute nach oben.
„Guck mal“, sagte er.
Lucy entdeckte den Mistelzweig sofort. Sie legte Tim eine Hand an die Wange und küsste ihn. Er schlang seinen Arm um sie und erwiderte den Kuss, bis sich hinter ihnen jemand lautstark räusperte.
Sie drehten sich um. „Hallo Papa“, sagte Tim.

„Das ist also dein Freund“, sagte Carina ungefähr eine Stunde später, als sie alle gemeinsam an der Glühweinbude standen und sich mit heißen Getränken aufwärmten.
„Stimmt genau.“ Lucy küsste Tim. Er zog sie an sich.
Carina musterte ihn kritisch. Martin kam dazu.
„Ich kenne ihn vom Sehen. Sie haben am Deich geholfen, stimmt’s?“
„Stimmt genau, Herr Wolter.“ Tim war ganz entspannt.
Martin zögerte noch einen Moment. Dann hielt er Tim die Hand hin. „Seien Sie gut zu ihr.“
Lucy lächelte überrascht. „Papa!“
„Er scheint ja ganz ordentlich zu sein“, sagte Martin. Er steckte verlegen seine Hände in die Jackentaschen. Carina stieß ihn an. Tims Eltern hatten sich zu ihnen gesellt.
„Ich bin Tims Vater“, sagte der andere Mann.
Sie sahen sich in die Augen und schätzten sich einen Moment ab, bevor sie die Hände reichten. Lucy verdrehte die Augen, sah ihre Mutter an und entdeckte genau denselben Gesichtsausdruck bei ihr.
Sie musste lachen.
„Gut, versuchen wir es mal“, sagte Martin gerade.
„Was versuchen? Wovon redet ihr?“ fragte Carina.
„Ob wir uns verstehen. Wir machen das bei der nächsten Bowlingrunde aus.“
Dieses Mal sahen sich Lucy und Tim an und verdrehten die Augen.
„Und“, sagte Martin zu Tim. „Wenn du ihr wehtust und sie beschwert sich über dich, werde ich dich besuchen.“
Tim hob die Hände. „Bleiben Sie mal locker, okay?“
Martin und Volker sahen ein, dass sie ihre Revierpinkeleien erstmal zurückstellen mussten.
„Also“, sagte Volker. „Ich gebe die nächste Runde Glühwein aus!“


9. Dezember, Montag
Kevin schwieg. Er sagte nichts, als er zum Frühstück in die Küche kam, nickte seiner Familie nur zu.
Er sagte nichts, als er sich mit Lucy auf den Weg zur Schule machte.
„Was ist mit dir los?“ fragte sie, als sie in der Halle ankamen.
„Nichts.“ Er hatte den Kopf abgewandt und gesenkt, wich allen Blicken aus.
„Kevin.“
„Du brauchst echt nicht auf mich aufzupassen.“
Lucy versperrte ihm den Weg. „Ich hab aber auch keine Lust, dass du hier Ärger bekommst. Was ist los?“
„Fuck, das geht dich nichts an, okay?“
„Kevin…“
„Ja, du willst mir helfen und so. Alles klar. Ich will nicht, dass du mir hilfst, kapierst du das?“

„Ach, sieh mal, wen wir da haben.“
Kevin wurde blass, er verkrampfte sich. „Toll. Danke, Lucy. Denen wollte ich hier nicht begegnen!“
Lucy drehte sich um. Drei Typen kamen auf sie zu. Den einen kannte sie, weil sie dieselbe Klasse besuchten, die anderen vom Sehen.
„Sind das die Jungs, mit denen du gesprayt hast?“
Kevin nickte nur und wartete darauf, dass sie ihn erreichten.
Lucy trat ein paar Schritte zurück.
Alex wirkte auf einmal viel größer als zwei Abende vorher. Kevin schluckte. Hinter Alex standen Zero und Fish.
„Wo ist Bulle?“
„Der sitzt. Sie haben ihn nicht gehen lassen, weil er zuviel Mist in seiner Akte hat.“
„Das tut mir leid.“
„So. Das tut dir leid. Wie nett. Papi hat dir da ja auch gut wieder raus geholfen, was?“
„Leute, das wollte ich nicht, echt!“
„Was, dass dein Alter dir hilft?“
„Äh… ja das auch. Und dass wir erwischt wurden.“
„Du siehst also ein, dass du schuld bist?“
„Ja“, flüsterte Kevin.
„Du bist so ein Idiot. Brauchst gar nicht mehr bei uns anzukommen, klar?“
Kevin nickte.
„Hab gedacht, du bist soweit, dass ich dich mitnehmen kann.“
„Alex, tut mir leid.“
„Wir sprechen uns noch.“
Kevin nickte. Er war den Tränen nahe. Natürlich konnte er das vor den Jungs und Lucy nicht zeigen. Sie drehten ab. Alex schaute sich nicht noch einmal um.
„War das Alex?“ Kevin zuckte zusammen und drehte sich langsam um.
„Das war Alex. Hast du doch gesehen. Wo warst du, verdammt nochmal?“
Max zog die Schultern hoch. „Mir war das zu krass. Ich bin abgehauen.“
„Was hast du denn mit den Bildern gemacht?“
„Die hab ich noch.“
„Was? Lösch die sofort!“
„Sind zu Hause.“
Kevin sah aus, als würde er Max im nächsten Moment schlagen.
„Na los, mach doch!“
Kevin bebte, lief rot an, schaute Alex nach, der hinten in der Halle die Treppe in den ersten Stock nahm.
Es gongte zur ersten Stunde.
Lucy löste sich von ihrem Platz und trat auf Kevin zu.
„Lass mich in Ruhe!“ fuhr er sie an.
„Ich wollte doch nur…“
„Mir helfen. Ich weiß. Das willst du immer! Hier kannst du aber nicht helfen, okay?“
Max stand jetzt zwischen ihnen, sah Lucy fragend an.
„Was ist mit dem denn los?“
Lucy zuckte mit den Schultern.
„Hey Lucy, wo bleibst du denn?“ rief Hanna.
Lucy rückte ihre Tasche zurecht und lief los.
„Bis später!“ rief sie ihrem Bruder und dessen Freund zu.

Als sie die Klasse betrat, hielt Alex sie auf. Lucy blieb stehen.
„Was willst du?“
„Eben was klarstellen.“
„Steck dir das sonst wo hin.“
„Lucy, bitte.“
Sie verlagerte ihr Gewicht und schaute an ihm vorbei.
„Was ist los?“
„Wegen vorhin. Mit Kevin.“
„Was geht mich das an?“
„Du bist doch seine Schwester.“
„Ja und du der Typ, wegen dem er jetzt in Schwierigkeiten steckt.“
„Ich wollte ihm kein Ärger machen.“
„Ja is klar.“
„Ich wollte ihm das Sprayen zeigen“, sagte er mit gedämpfter Stimme. Das hier ging nur sie beide was an. „Weil ich weiß, was für ein geiler Painter er ist.“
„Du Denkzwerg.“
„Wie war das?“
„Das hast du ganz richtig verstanden. Du bist ein Idiot. Toll, du wolltest ihm das Sprayen zeigen. Von den Bullen hast du nicht gesprochen, was? Und jetzt scheißt du ihn hier an. Er kann nichts dafür, dass ihr erwischt worden seid!“
„Aber er war neu.“
„Und du bist Profi, oder was?“
„Zero ist Profi. Ich bin nur ziemlich gut.“
„Und jetzt ist Zero auch erwischt worden.“
„Genau. Und er gibt Kevin die Schuld daran.“
Lucy wartete.
„Ich nicht“, sagte Alex. „Ich mag deinen Bruder, okay? Ich bin nicht sauer auf ihn.“
„Dann hör auf ihn fertigzumachen.“
„Deswegen rede ich jetzt doch mit dir!“ Er fuhr sich durch die Haare.
„Setzt euch.“ Der Englischlehrer trat ein und schloss die Tür hinter sich.
„Mist.“ Alex sah sie verzweifelt an.
„Wir reden nachher weiter.“
Lucy zuckte mit den Schultern. „Wenn du meinst.“
Aber nach der Stunde wurde Alex sofort von anderen ins Gespräch verwickelt. Und Lucy setzte sich mit ihren Freundinnen ab.
„Warum hast du denn mit Alex geredet? Steht er neuerdings auf dich?“ fragte Maryam.
„Ach Quatsch. Ging um irgendeinen Streit mit meinem Bruder“, wich Lucy aus.
„Echt? Und deswegen redet er mit dir?“
„Er denkt, wenn ich mit Kevin rede, wird’s leichter, als wenn er sich selber entschuldigt.“
„Was für ein Idiot.“

Lucy hatte früher Schulschluss als Kevin und am Nachmittag etwas vor. Sie sah ihn erst am Abend wieder.
„Hat Alex mit dir geredet?“ fragte Kevin.
„Warum?“
„Hat er?“
„Ja. Heute Morgen.“
„Was wollte er?“
„Ich soll dir sagen, dass er nie dachte, dass du schuld bist, dass ihr erwischt worden seid.“
„Aha.“
„Kannst du nicht wieder mit ihm reden? Der rennt mir sonst solang hinterher, bis ich sag, dass du wieder sein Freund bist.“
„Ist seine Sache.“
„Deswegen hat er mir doch gesagt…“
„Nein. Er muss selber zu mir kommen. Sag ihm das, wenn ihr eh schon so seid.“ Kevin kreuzte seine Finger.
„Sind wir nicht.“
„Ach nein?“ Kevin grinste dreckig.
„Ich bin mit Tim zusammen. Weißt du doch.“
„Ach, stimmt ja. Mit dem Bodybuilder.“
Lucy hatte keine Lust, darauf was zu erwidern. „Mach was du willst. Alex will mit dir reden und ich hab‘s dir ausgerichtet. Das ist jetzt deine Sache. Lade ihn meinetwegen zur Feier bei uns ein.“
Kevin brummte nur irgendwas. Immerhin ließ er Lucy für den Rest des Abends damit in Ruhe.


10. Dezember, Dienstag
„Alex, warte mal.“ Kevin erwischte ihn am nächsten Morgen auf dem Schulhof.
Alex war mit mehreren Freunden unterwegs, zum Glück weder mit Zero noch mit Fish.
„Bin gleich wieder da“, sagte er.
„Wieso? Was will der denn?“
„Muss eben mit ihm reden.“ Das hier ging die anderen nichts an.
Sie zogen sich in eine ruhige Ecke zurück. „Also, da bin ich.“
„Lucy hat gesagt, du willst mit mir reden.“
„Ja.“
„Also?“
Alex gab sich einen Ruck. „Sorry Mann. Ich hab dir nie die Schuld gegeben, dass sie uns gecasht haben.“
„Ach? Na das ist ja mal nett von dir“, sagte Kevin.
„Du bist sauer auf mich.“
„Wie kommst du denn da drauf?“
„Ehrlich, tut mir leid, Mann. Vor Zero und Fish konnte ich doch nicht sagen, du bist unschuldig und kannst nichts dafür.“
„Weil ich nur der Kleine bin, der nicht zur Szene gehört und eigentlich eh nur gestört hab.“
Alex wand sich. „Ja.“
„Cool. Dann weiß ich jetzt ja, was du von mir hältst. Und was ist Max? Noch so ein kleiner Scheißer? Und Lukas? Der ja zum Glück einen kaputten Fuß hat?“
„Der steht hinter dir und hört dir gerade zu“, sagte Kevin.
Alex erstarrte und schaute über die Schulter. Lukas und Max standen nebeneinander, Lukas auf Krücken, Max mit verschränkten Armen. Kein Lächeln.
„Brauchen wir den noch?“ fragte Lukas.
Die drei wechselten einen Blick. Alex fühlte sich ausgeschlossen.
„Ich weiß auch nicht“, sagte Kevin.
„Also, müsst ihr ja wissen“, sagte Alex wütend.
„Oder was?“ fragte Kevin.
„Ich brauch euch nicht. Ich hab meine Leute. Weiß gar nicht, warum ich mich mit euch abgebe.“
„Weil wir nicht so assi sind wie deine anderen Freunde“, sagte Max. Er hielt Alex Blick stand. Ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
„Und warum bist du dann weggelaufen?“
„Weil ich kein Bock auf Knast hatte.“
„Hast du uns verraten?“
„Das habe ich nicht! Ich habe sie nur eher gehört. Ihr wart ja so tief drin in eurem Kram. Ich hatte meine Ohren auch noch woanders.“
„Könnste Recht mit haben“, gab Kevin zu. „Ist doch so, Alex?“
„Ja“, gab der widerwillig zu.
„Also reden wir wieder miteinander?“
„Müssen wir ja wohl.“
„Wieso denn das?“ fragte Lukas. „Wenn dir meine Gesellschaft stinkt, kann ich auch gut auf dich verzichten.“
„Du bist nicht gemeint, Luke. Ich meinte Kevin. Der ist nämlich genau wie ich jetzt aktenkundig und wir kriegen beide ein Strafverfahren an den Hals.“
„Strafverfahren? Wieso das denn? Was habt ihr denn schon gemacht?“ fragte Lukas zurück.
„Wir haben da die Wände besprayt“, gab Alex zurück. „Sag mal, wo bist du denn groß geworden, hinterm Mond?“
„Find ich bescheuert“, sagte Lukas. „Wo wart ihr denn? Bei dieser Bruchbude im Gewerbegebiet? Das interessiert doch keinen, wenn ihr da mal rumsprayt.“
„Sie haben uns aber trotzdem erwischt. Und irgendjemand ist total sauer, weil wir da dran waren.“
„Bescheuert. Ich bin auf jeden Fall auf deiner Seite, Alex.“
„Was ist mit dir, Max? Kevin?“
Max zuckte mit den Schultern. „Mir egal. Ich hab nix gegen dich, Alex.“
Kevin kämpfte noch mit sich.
Er dachte daran, was für einen Fun sie beim Sprayen gehabt hatten und das er das verdammt gerne weiter machen würde. Daran, dass Alex ihn angeblich gar nicht für schuld daran hielt, dass sie erwischt worden waren und seine Bitte um Entschuldigung über Lucy.
„Okay. Ich bin dabei.“
„Schlag ein.“ Alex hielt Kevin die Hand hin. Der drückte sie ohne zu zögern und sah Alex fest an.
„Dann bist du also dabei? Machst weiter mit?“
„Auf jeden. Und ihr?“
„Sobald ich wieder laufen kann“, grinste Lukas.
Max zögerte noch.
„Max, was ist jetzt?“
„Ich kann nicht.“
„Warum denn nicht?“
„Ich mach das nicht mit. Ich hab kein Bock auf Ärger, klar?“
„Wir machen doch gar keinen Ärger.“
„Ihr habt Ärger mit der Polizei. Ich will das nicht.“
„Wie du willst“, sagte Alex. „Dann eben nicht.“
Aber in seinem Tonfall schwang etwas mit, das Max endgültig ausschloss.

Martin und Carina machten am Dienstag früher Schluss. Punkt siebzehn Uhr traf der Bankberater bei ihnen ein, der ihnen von der Lottogesellschaft wärmstens empfohlen worden war.
Es bestand keine Gefahr, dass die Kinder mitbekamen, was hier los war. Lucy war mit einer Freundin beim Sport. Kevin war sowieso so selten wie möglich zu Hause. Computer spielen konnte er bei einem Kumpel viel besser und ansonsten hingen die Jungs auf der Halfpipe herum. Nur wenn er zeichnete, vergrub er sich in seinem Zimmer.
Carina war nervös. Sie kontrollierte ein Dutzend Mal ihre Frisur und den Sitz ihres Kostüms, bis es Martin zu viel wurde.
„Du siehst gut aus.“
Sie sah ihn überrascht an und hörte auf an sich herumzuzupfen. „Danke!“
Er wurde rot vor Verlegenheit. Martin war kein Mann großer Worte und Komplimente gab es von ihm nie.
Es gab Kaffee und Kekse. Der Bankberater hieß Fischer. Er strahlte eine Aura von Geld aus und behandelte die beiden zuvorkommend. Es fehlte nur noch, dass er sich die Hände gerieben hätte vor lauter Eifer.
„Dann wollen wir mal“, sagte er. „Oh, ich nehme gerne eine Tasse Kaffee.“
Carina schenkte ein und nahm neben ihrem Mann Platz.
Fischer versicherte den beiden, dass er sehr versiert in der Beratung frischgebackener reicher Leute war.
„Bei mir ist Ihr Geld in den besten Händen.“
„Was können Sie uns anbieten? Es ist ja wirklich eine Menge Geld.“
„Das ist vollkommen richtig“, sagte Fischer. Er räusperte sich, fuhr seinen Laptop hoch und holte mehrere Prospekte heraus.
„Ich habe für Sie bereits ein paar Anlagemöglichkeiten zusammengestellt. Sie können das Geld ja schlecht auf ein einfaches Sparbuch legen, nicht wahr?“ Er lachte laut und Martin stimmte ein. Carina saß daneben und verdrehte in Gedanken die Augen. Diese beiden Männer waren auf dem besten Weg gute Freunde zu werden. Herr Fischer schien genau zu wissen, was ihnen wichtig war.
In der nächsten Stunde legte er ihnen ein Modell nach dem anderen vor. Kassageschäfte, Derivate, Aktien, Fonds, Martin und Carina schwirrte nach einer halben Stunde schon der Kopf.
„Und damit erhöhen wir unser Vermögen sogar noch?“ vergewisserte sich Carina.
Herr Fischer deutete auf ein Wachstumsdiagramm. „Sehen Sie das hier? Das ist vollkommen sicher. Ihr Vermögen wird sich in den nächsten fünf Jahren quasi um das Anderthalbfache erhöhen, in sieben Jahren verdoppeln!“
„Das ist ein fantastisches Angebot. Zeigen Sie mal her.“
Carina ließ sich die Unterlagen geben. Blätterte den Prospekt durch.
„Martin, sieh dir das an!“
Martin sah es sich an. Nahm einen Taschenrechner und ging ein paar Zahlen durch. Herr Fischer lehnte sich zurück und nippte an seinem Kaffee. Das lief wunderbar. Diese beiden waren scharf darauf, ihren hohen Gewinn am besten noch zu verdoppeln oder zu verdreifachen. Und ihm winkte eine fette Provision.
„Ich kann da keine Fehler drin finden“, sagte Martin. Carina nickte.
Herr Fischer zog ein Vertragsformular hervor.
„Selbstverständlich bekommen Sie von uns in den nächsten Tagen Ihre persönlichen Kreditkarten und Ihre Zertifikate zugeschickt. Herzlichen Glückwunsch!“
Carina füllte noch einmal die Kaffeetassen, Martin öffnete eine Flasche Sekt.
„Und Prost!“


11. Dezember, Mittwoch
Martin hatte den Autohändler schon angerufen, bevor er Carina über den Lottogewinn informierte. Sie ließen sich einen Termin in der Mittagspause geben. Als sie die Autohalle wieder verließen, war Carina einfach nur begeistert und schwelgte in Superlativen. Sie hatten sich einen BMW bestellt, dazu ein Motorrad für Martin.
„Ich habe seit zehn Jahren den Führerschein“, hatte er seiner Frau erklärt, „jetzt will ich mir endlich eine Maschine anschaffen.“
Sie hatte ihm einen Kuss gegeben und dann ihren Augenaufschlag eingesetzt.
„Gehen wir heute Abend zum Juwelier?“
„Selbstverständlich, mein Schatz.“

„Warum trinkt ihr mitten am Nachmittag Sekt?“
Carina stellte ihr Glas ab und lächelte verlegen.
„Lucy!“ sagte Martin.
„Ist doch wahr! Ihr habt doch was!“
„Junge Dame…“
„Alter Mann“, erwiderte Lucy.
Sie holte ein Glas aus dem Schrank und schenkte sich Sekt ein.
„Für dich nicht!“
Carina erntete nur einen verächtlichen Blick. Lucy trank mit ihren Freundinnen regelmäßig Sekt, wenn sie feiern gingen. Da kam ihre Mutter ein bisschen spät mit dem Verbot.
Die Haustür ging auf und zu. Kevin lärmte im Hausflur, dann entdeckte er seine Familie.
„Was feiert ihr?“ rief er.
„Wo kommst du denn her?“ fragte Martin, überhörte die Frage seines Sohnes.
„Wieso? Aus der Schule?“
„Es ist schon fast halb sechs.“
„Na und? Hatte heute noch so ’nen Kurs.“
Kevin verzog sich rückwärts aus dem Wohnzimmer. Es war gerade wichtiger, seinen Vater aus dem Weg zu gehen als rauszufinden, was da abging. Er hatte kein Interesse daran, dass Martin rausfand, dass sie wieder sprayen gingen.


12. Dezember, Donnerstag
Carina rief in der Mittagspause ihre beste Freundin an.
„Klar gehe ich mit dir einkaufen“, sagte Barbara.
Sie legte ihre Beine in den Stiefeln vom Vorjahr auf den aufgeräumten Schreibtisch.
„Das haben wir seit letztem Jahr nicht mehr gemacht!“
„Du machst Witze“, sagte Carina ungläubig. „Das kann gar nicht so lang her sein.“
„Ist es aber“, antwortete Barbara. „Also, erzählst du mir jetzt, was bei euch los ist?“
„Bei uns ist nichts los“, behauptete Carina.
Barbara lachte. „Schätzchen, ich muss weitermachen. Mein Chef erwartet ein perfektes Layout zum Feierabend.“
Während sie später im Schuhgeschäft Stiefel und Pumps durchprobierten, hielt Barbara es nicht mehr aus. Sie hatte beobachtet, wie Carina in den Klamottenläden eine Kreditkarte hervorzog und sie halb stolz, halb verlegen über den Tresen reichte.
„Du hast auf einmal diese schicke Kreditkarte, kaufst ein, also, was ist passiert? Habt ihr im Lotto gewonnen? Ist eine Erbtante gestorben?“
Carina begutachtete sich einem Paar Pumps in rosa.
„Meinst du, die stehen mir?“
„Genau deine Farbe. Würde ich nehmen“, sagte Barbara. „Also, was ist nun?“
Das erzählte Carina ihr, als sie zum Abschluss noch im Café saßen.
Barbara beugte sich mit leuchtenden Augen vor.
„Das ist ja fantastisch. Ein Traum! Wollen wir nicht auf diese super Silvesterparty?“
„Sehr gern! Das Geld für den Eintritt ist jetzt ja da“, erwiderte Carina. Sie genoss es, das sagen zu können. „Und unsere Männer nehmen wir auch mit.“

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