Mutter Natur
von Rutz Rische

 

...

Diese unerträgliche Migräne!
Ist das etwa der Beginn der Wechseljahre?
Ines wirft einen kurzen Blick in den Spiegel.
In die Stirn hat sich in den vergangenen zwei Jahren eine Zornesfalte
zielgerecht eingefressen.
Ihr Haar ist auch spröder geworden.
Während sie in den vierten Gang hochschaltet, nimmt sie sich vor, einfach mal ein Wochenende auszubrechen.
Einfach mal mit einer alten Freundin ans Meer fahren, Spaziergänge oder den ganzen Tag mit Gurkenmaske abhängen. Massage vielleicht.
Jochen würde das auch nicht mehr beeindrucken.
Ines spürt einen Kloss in ihrer Kehle, der allmählich zu einem Geschwür heranreift.
Natürlich hat er was mit diesem jungen Ding vom Tennis-Verein. Auch wenn er es hartnäckig leugnet.
Das ständige Duschen und das Training an den Wochenenden.
Ines Blick wandert am Amaturenbrett entlang zur Uhr.
Wieder zu spät.
Jochens Idee war es gewesen, hier raus aufs Land zu ziehen.
Familienidylle im eigenen Häuschen mit Garten. Die einzige, die Rasen und Unkraut in Schach hält, ist sie.
Dann dieser Köter, den die Kinder unbedingt haben wollten.
Nach einem halben Jahr pinkelt er immer noch auf den Teppich. Und wer darfs wegwischen? Sie.
Der Staubsauger stinkt zudem bestialisch nach Hund. Ob die Pusteln auf ihrer Haut wohl daher kommen?
Für Jochen jedenfalls ein guter Grund, ihr nachts den Rücken zuzudrehen.
Ines hat den Bahndamm überquert und beschleunigt.
Die sanfte Landschaft um sie herum, nimmt sie nicht mehr wahr.
Dieses verdammte Kaff. Jochen hatte sie einfach vor vollendete Tatsachen gestellt.
Dass die Schule zehn Kilometer weit entfernt ist, hat ihn dabei nicht gestört.
Schliesslich gäbe es ja einen Schulbus.
Nur, dass die Gören sich zu schade dafür sind und den regelmäßig verpassen.
Und dann muss sie durch die Prärie düsen.
Und keinen kümmert es, dass der ständige Kopfschmerz sie lähmt.
Immerhin hatte Jochen ihr als Trost für die weiten Wege diesen netten Geländewagen geschenkt.
Schön viel Platz für Kinder, Hund und Einkäufe in der Stadt.
Grosszügig ist er ja immer noch, der Jochen.
Das Reh kommt von links. Ines schafft es gerade noch, die Geschwindigkeit zu drosseln.
Sie will abremsen, ausweichen oder beides. Aber der in Sekundenschnelle erfolgende Aufprall sagt ihr, dass es dafür zu spät ist.
Der Wagen kommt zum Stehen.
Ines atmet durch. Nur gut, dass keines der Kinder im Wagen ist.
Ines steigt aus.
Das Reh liegt auf dem Rücken. Seine Beine zappeln.
Ines schaut sich um.
Felder und Weiden. Weit und breit kein Haus.
Eigentlich muss sie den Unfall dem nächsten Förster melden, weiss sie.
Aber wo soll sie den finden?
In den Kofferraum und dann zum Tierarzt.
Ines überlegt, wie schwer das Tier wohl ist und ob sie es schafft, es allein in den Kofferraum zu hieven.
Ob es da überhaupt reinpasst?
Ihre Arme hängen steif vom Körper herab.
Das Reh dreht ihr seinen hübschen Kopf zu und schaut sie mit klagenden dunklen Augen an.
Ines kann sich nicht überwinden, den sterbenden Körper anzufassen.
Das Handy klingelt.
"Mutti, wo bleibst du denn?" fragt eine weinerliche Kinderstimme.
Der Druck auf ihre Schläfen nimmt unaufhörlich zu.
Hätte sie doch zu Hause eine Aspirin eingeworfen.
"Verdammtes Reh!" flucht Ines und kalter Schweiss läuft an ihrem Körper herab.
"Als hätte ich nicht Stress genug."
Verärgert tritt Ines mit der Fusspitze gegen den zitternden Körper.
Das Reh gibt ein jämmerliches Fiepen von sich.
Plötzlich verspürt Ines den Drang, laut und grausam zu lachen.
Mit raschem Blick scannt sie die Landschaft ab. Kein Haus, kein Wanderer, kein weiteres Auto.
Der Hass macht sich in ihrer Kehle breit. Ihre Zunge ist trocken. Ihr Herz beginnt zu rasen.
Das Reh röchelt.
Ines steigt in ihr Auto, setzt zurück.
Nach ca. hundert Metern hält sie an, nimmt all ihren Mut zusammen und startet los.
Befriedigt hört sie das Knacken der feinen Knochen unter den Autorädern.
Wieder setzt sie zurück, um dann schliesslich in einem großen Bogen an dem Reh, oder dem, was von ihm übriggeblieben ist, vorbeizufahren.

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