Brennpunkt Wien
von Esbozo del Tonto

 

Ein Ausschnitt aus der gleichnamigen ORF-Fernsehserie mit dem beliebten Moderator Hans-Maria Poborsky


Hans-Maria Poborsky:
Und nun zu unserem letzten Beitrag. Huah. Haben Sie's auch schon gemerkt? Draußen hat es jetzt jeden Tag ein wenig kälter und ungemütlicher. Der Winter steht wieder einmal vor der Tür. Wie gut, wenn man dann einen warmen Arbeitsplatz hat wie ich zum Beispiel und eine geliebte Familie, mit der man sich abends zusammen so richtig gemütlich ans Kaminfeuer kuscheln kann.
Doch wir wollen nicht vergessen, dass es auch Menschen gibt, die solche Privilegien nicht genießen. Hätten Sie vielleicht Lust, bei so einem Sauwetter wie heuer Tag und Nacht draußen an der dunklen Straße herumzustehen und sich von widerlichen, fremden Männern betatschen zu lassen? Also, ich nicht!
Und doch, es gibt sie, die Ausgestoßenen unserer Gesellschaft, die, über die wir nicht gerne reden. Die, denen wir herablassende Namen geben wie Sandler, Giftler oder Nutte. Die, die vielleicht selbst schuld sind an ihrem Schicksal. Die, die vielleicht aber auch nicht so wohlbehütet aufgewachsen sind wie wir, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer. Die, denen vielleicht auch nur das nötige Quäntchen Glück in ihrem Leben gefehlt hat.
Von einer solch bemitleidenswerten Person zeugt unser folgender Film:

Sprecher:
Wer Hildegard Moser so anschaut, der mag nicht recht glauben, dass sie erst fünfundzwanzig Jahre alt ist. Sie wirkt um so vieles älter - derangiert, ausgelaugt, verlebt - in jeder Falte ihres Gesichtes spiegelt sich ein Aspekt ihres verpfuschten Lebens wieder: drei Fehlgeburten, eine gescheiterte Ehe und das Abgleiten in Kriminalität und Suchtgiftabhängigkeit.
Der allererste und vielleicht einzige glückliche Moment in Hildegard Mosers Leben war die Geburt ihres Buben Franzl. Die Mediziner hatten ihr eine Uterusabnormalität diagnostiziert, seitens der sogenannten Experten riet man ihr immer wieder inständig von einer Empfängnis ab.
Doch Hildegard Moser ließ sich nicht beirren. Im vierten Anlauf hatte es endlich geklappt und Hildegard Moser wähnte ihren Lebenstraum bereits unter Dach und Fach.
Doch der Vater des Buben, ein fünfzehnjähriger Maurerlehrling, mochte sie nach der Geburt plötzlich nicht mehr recht leiden und den kleinen Buben erst überhaupt nicht. So kehrte Hildegards Lebensgefährte ihr bald den Rücken und angesichts seiner finanziellen Situation vermochte er für den Unterhalt des Buben nicht aufzukommen. Die junge Frau stürzte in eine psychische und finanzielle Depression - ihr Lebenstraum war gescheitert.
Damit wir Hildegard Mosers heutige Situation besser verstehen können, müssen wir noch einmal einige Ereignisse aus ihrer Kindheit Revue passieren lassen. Hildegard Moser wurde im Jahre 1978 in einem pittoresken Dörfchen im Tiroler Unterland geboren. Ihre Kindheit verlief sehr unüblich, gemessen an dem sehr konservativen Umfeld. Ihren Vater hat Hildegard niemals kennen gelernt. Der saß wegen zahlreicher Sittendelikte seit 1978 in Haft, bis ihm 4 Jahre später die Flucht nach Ungarn gelang. Ab und an eine Weihnachtskarte war alles an Aufmerksamkeit, was er seinem unbekannten Töchtling angedeihen ließ.
Hildegards Mutter taugte gar überhaupt nichts, sie war eine dorfbekannte Säuferin.

Hildegard Moser:
I war immer stolz auf meinen Papá, au wenn i ihn nie gsehn hab. I wusst ja net, dass er aan Abartiger war. Mamá hat mir immer gsagt, er wär in Amerika und würde Raketen bauen und bald tät er zrückkämma und mir würden olle in Saus und Braus leben. Des hat sie immer gsagt. Jedenfalls, wenn sie überhaupt noch sprechen konnt hat. Meist morgens. Mittags, wie ich aus der Schule kämma bin, hatte sie scho aane dreiviertel Flaschen Kirschwasser intus. Früher hab i denkt, des wär normal. I war halt kloan.

Sprecher:
Normal war wohl nichts in Hildegard Mosers Leben. Ihre Jugend, die doch gemeinhin die schönste Zeit im Leben eines Menschen ist, war geprägt von Gewichtsproblemen, psychosomatischen Erkrankungen und nächtlicher Bettnässerei. Hildegard Moser wurde deshalb häufig von ihren Schulkameraden aufgezogen, oder - was vielleicht noch schlimmer war - wie die Pest gemieden. Sie war und blieb eine Außenseiterin in der ländlichen Gemeinschaft.
Mit achtzehn fasste sie den mutigen Entschluss, das Matura abzubrechen und ihrer Heimat den Rücken zuzukehren. Sie packte ihren Rucksack und fuhr per Anhalter nach Wien.

Hildegard Moser:
I musste einfach raus aus *****. I habs einfach net mehr ausghalten. So bin i aufi nach Wien. Des war a ungheures Erlebnis für aan junges Madel. I hab mir aan Job in der Gastronomie gsucht und da hab i den Alfons kennerglernt. Wui, war der am Anfang süaß! Net lang un mir ham gheiratet.

Sprecher:
Doch die junge Ehe war den Belastungen, die aus Hildegards zerrütteter Kindheit resultierten, nicht gewachsen. Nach drei Fehlgeburten und mehreren gescheiterten Suizidversuchen trennte sich Hildegard von ihrem Gemahl.

Hildegard Moser:
I wollt doch unbedingt aan Kind ham! Wor des zufui verlangt? Die Mediziner moanten, des sei ois meine Schuld und i könnt niemals koane Kinder austragen. Aber i wollt des net glauben und hab mir denkt: der Alfons ist schuld. Da hob i ihn abserviert. Heuer tuts mir leid - hallo Alfons, hörst des? Tut mir leid, gö?

Sprecher:
Schließlich lernte Hildegard den jungen Anton kennen. Mit ihm ging der lang ersehnte Kinderwunsch endlich in Erfüllung. Doch Anton war zu unerfahren, um dieser ungeheuren Verantwortung Herr zu werden und er ließ Hildegard und den kleinen Buben schmählich im Stich. Womit wir wieder am Anfang unserer Geschichte wären, jedoch noch lange nicht am Ende.

Hildegard Moser:
Ois der Bub kam, musst i meine Karriere in der Gastronomie an den Nagel hängern und von der Sozialhilfe leben. Aan Kindermadel konnt i mir net leisten, des hätt in der Stund mehr gkostet ois i verdient hätt. I hob ja fast nur vom Trinkgeld glebt, des Ghalt hat doch der Fiskus aufgfressen. Und weil i ab und an a bisserl grantig zu den Herrschaften gwesen bin, kam da net fui bei rum.

Sprecher:
So wurde Hildegard Moser schließlich zum Sozialfall. Doch auch die Stütze und das Kindergeld langten vorne und hinten nicht. Als ihr Bub zwei Jahre alt war, hatte Hildegard sich dermaßen tief verschuldet, dass sie nur noch einen allerletzten Ausweg sah: sie verkaufte ihren Körper.

Hildegard Moser:
Ois kloans Madel hat man ja immer so romantische Vorstellungen von derer Hurerei. Fui Göld könnt man da mit wenig Oarbeit verdiernen, wenn man so eine echte Edelkokotte in einem Renoméepuff wär, hat man denkt.

Sprecher:
Doch die Realität sah für Hildegard Moser anders aus. Statt im Nobelbordell mit goldenen Wasserhähnen und Satinbettwäsche hieß es an düsteren Straßenecken beim Westbahnhof anschaffen gehen. Unter größter Gefahr für Leib und Leben und für einen Hungerlohn, denn der Konkurrenzdruck durch billige minderjährige Nutten aus dem Osten ist heuer gewaltig. Davon weiß Kommissarin Liebtraud Pankratz vom Sittenreferat des Wiener Sicherheitsbüros ein Liedchen zu singen:

Kommissarin Liebtraud Pankratz:
Wir schätzen, dass in unserer Stadt etwa 3,500 Prostituierte ohne "Deckel" - das heißt illegal - anschaffen gehen - oft unter furchtbaren und menschenverachtenden Bedingungen. 80% der Mädchen kommen aus dem Ausland und die wenigsten üben ihre Tätigkeit aus freien Stücken aus. Doch uns sind meist die Hände gebunden, schließlich können wir nicht alle verhaften und wegsperren. Des ginge auch am Verursacherprinzip vorbei, denn die wirklichen Kriminellen sind die Schlepper und Kuppler auf der einen sowie die Freier auf der anderen Seite. Und erlauben sie mir, wenn ich zu behaupten wage, unsere ganze Gesellschaft trüge die Hauptschuld an diesem Dilemma. Wenn wir uns immer nur sagen "was geht's mi an - leben und leben lassen - i wohn' ja net in der Mariahilfstraße", passiert auch nix.

Hildegard Moser:
10 Euro füras Blasen ohne Gummi und 15 füra GV auf dem Autositz - des is ois. I bin halt nimmer so fesch wie die jungen Dinger aus Ungarn und der Tschechei. Aber 10 Euro! Herrschaftszeiten! Ganz schia erbärmlich, wenn man denkt, was man sich da ois holen kann. Und die Freier des san ois Kaputte - koaner dabei, der wengs a bisserl anständig wär und nur mal reden möcht oder aanem aane Zigarette spendieren tät. Net aaner hat mir mal zum Geburtstag aan Blumenbukett verehrt. Und ois wär des ois noch net gnuag, kommt oben aufi noch der ewige Ärger mir derer Gendarmerie!
Und der Bub tat mir a leid - saß immer auf derer Rückbank und musst sich des Gstöhne ohören. Für so aan Heranwachsenden is des ja a nix auf Dauer. Hab mi scho manchmal vor ma selbst gschämt. Es is scho a scheiß Elend - auf österreichisch gsagt.

Sprecher:
Wer meint, tiefer konnte die Hildegard Moser jetzt wirklich nicht mehr sinken, der irrt gewaltig. Wie viele ihrer "Arbeitskolleginnen" machte auch sie eines Tages mit dem Dämon namens Suchtgift Bekanntschaft. Alles begann ganz harmlos auf einer Nuttenparty...

Hildegard Moser:
Die Stimmung war halt ganz ausglassen und i hatt auch schon aane Flaschen Wodka nunterkippt, da kam so a Mohr auf mi zu und sprach mi o. A fescher junger Mohr, er war so nett und lächelte mi o!
I wusste gar nimmer, wann mi zum letzten Mal a Mannsbüld oglächelt hatte! Er bot mir aane Zigarette o, so aane selbstgwutzelte. I hab si graacht und mir noch denkt: wie hat der so schiane weiße Zähne, wenn der so a Zeugs raacht? Dann hats mi umghauen - einfach umghauen und weg war i. Irgendwann hab i wieder so was ähnlichs wie a Bewusstsein erlangt und wusste sofort - da in der Zigaretten war a Suchtgift herinnen!

Sprecher:
Der "Mohr", der Hildegard Moser so nett angelächelt hatte, war einer der ausgebufftesten Zuhälter und Drogendealer von ganz Wien - Frank Delasco aus Afrika. Hildegard war ihm schnell verfallen - oder vielmehr dem Suchtgift.
Ihre finanziellen Probleme schienen damit gelöst zu sein, denn "Fränki", wie sie ihn liebevoll nannte, war sehr großzügig und sein Kühlschrank war stets voll. Ganz selbstlos war er indes nicht - für den begehrten "Stoff" musste Hildegard Moser gewisse Dienstleistungen an Fränkis sogenannten Freunden erbringen - doch das war ihr noch lieber, als draußen im Regen an der dreckigen Gosse zu stehen.
Das traute Glück wurde jäh zerrissen, als Anton wieder auf der Bildfläche erschien. Er war durch seine Lehrlingsprüfung gerasselt und aus Frustration darüber wollte er seine Ex-Partnerin in die Pfanne hauen. So zeigte dieser "vorbildliche Vater" unsere Hildegard Moser beim Jugendamt und Frank Delasco bei der Kriminalpolizei an.

Hildegard Moser:
I war immer guat zu meim Buben, des schwör i! Manchmal, ja manchmal, wenn i so richtig "drauf" war, dann wusst i halt nimmer, wo er jetzt is, der kloane Schatzl. Wenn i dann Fränki fragt habt, sagte der immer nur "Shut up, slut!" und gab mir aan Leberhaken. Er war halt manchmal a weng nervös und überarbeitet, gö?. Und i glaub, aan Oarschloch war er a. Aber nach a por Tagen is der Bub immer wieder aufgtaucht und hat sich a nie bschwört oder glangweilt, des schwör i bei meiner Mutter!

Sprecher:
Doch Hildegard Mosers Beteuerungen ließen das Jugendamt kalt. Der liebenden Mutter wurde das Sorgerecht für ihren Kleinen entzogen. Die gewissenlosen Bürokraten setzten ihr schließlich sogar die Pistole auf die Brust: entweder müsse sie "clean" werden oder den Buben zur Adoption freigeben, sonst drohe ihr die Justizanstalt. Alle Entwöhnungsversuche schlugen fehl und so wurde entschieden, dass der Bub seine leibliche Mutter niemals wiedersehen dürfe.
Hildegard Moser stand einmal mehr vor einem Scherbenhaufen. Zu Fränki konnte sie nicht zurück, der wurde wegen mehrerer Vergehen gegen das geltende Fremdenrecht nach Deutschland ausgeliefert, von dem aus er illegal nach Austria eingereist war.
Alles, was Hildegard heute noch bleibt, ist die Straße. Und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Doch die scheint begrenzt, denn im Frauenspital stellte man erst kürzlich einen Gebärmutterkrebs im fortgeschrittenen Stadium bei ihr fest. Doch Hildegard Moser mag sich nicht geschlagen geben.

Hildegard Moser:
Na, aufgeben käm für mi net mehr in Frage. I bin scho aane Kämpfernatur. Klor, des is a elends Leben. Koane Familie, koane Freunde, mein Körper, der von Suchtgift und Krankheit zerfressen wird. I glaub, aan Unglück zieht des nächste o und so weiter.
Manchmal wünscht i mir, i wär nie nach Wien kämma, wär zhaus blieben und hätt mei Matura gmacht. Vielleicht wär i a Professorin in Byzantinistik gworden, wer woaß des scho. Manchmal denk ich a, i hätt bei Alfons bleiben sollen. Er war der aanzig anständige Mann in meinem Leben. Neben meinem kloan Buben. Manchmal, wenn i drauf bin, träum i, der Alfons tät anrufen, er hätt jetzt einen tollen Job und würd mi wiederhaben wolln. Und wir wärn aane richtige Familie - der Bub, der Alfons und i. Doch des wird immer a Traum bleiben. Was sollt der Alfons scho mit mir wolln? I bin halt wie meine Mutter. I taug halt überhaupt nix.

Sprecher:
Und so neigt sich wieder ein Tag in unserer unbegreiflichen Stadt seinem Ende. Und morgen wird ein neuer folgen. Für manche wird es ein erfolgreicher, für andere vielleicht sogar ein glücklicher Tag werden. Aber eines ist gewiss: für Hildegard Moser wird dieser Tag die ganz normale Hölle sein.
Wenn sie also morgen oder irgendwann in nächster Zukunft eine elende, abgewirtschaftete Hure am Straßenrand erblicken, denken Sie daran - es könnte Hildegard Moser sein. Schenken Sie ihr dann ein bisschen Selbstachtung, ein kleines Lächeln, machen Sie ihr ein Kompliment oder geben Sie ihr einen Fünfer extra - denn wir sollten nicht vergessen: wir alle könnten so sein wie Hildegard Moser.

Hans-Maria Poborsky:
Ich weiß nicht, wie es Ihnen erging, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer an ihren Televisionsgeräten. Mich hat diese Geschichte zutiefst gerührt und beschämt. Gerührt, weil diese tapfere Frau allen Unbilden zum Trotz niemals zerbrochen ist. Beschämt, weil solche Schicksale in unserem ach so wunderbaren und hochzivilisierten Österreich beinahe schon zum Alltag gehören.
Darüber können wir gar nicht oft und angestrengt genug nachdenken. Ich weiß nicht, ob ich heute nacht ruhigen Gewissens schlafen kann. Dennoch darf ich Ihnen, meinen lieben Zuschauerinnen und Zuschauern, wie immer einen schönen Abend wünschen. Bis nächste Woche. Tschüß und Servus. Ihr Hans-Maria Poborsky.

Regie:
Schnitt! Danke Hansi, Du warst mal wieder spitze!

Hans-Maria Poborsky:
Ich danke Euch, Jungs! Klasse Repo! Diese saublöde Pomeranze kam echt authentisch rüber. Sagt mal, wer hat sich eigentlich diesen "Fränki" aus der Nase gepopelt? "Da kam so a Mohr und hat mi anglacht" - "da in der Zigaretten war a Suchtgift herinnen!" - göttlich - ich konnt mich vor Lachen nimmer halten.

Regie:
Die G'schichte ist authentisch, lieber Hansi. Wie alle unsere G'schichten. Mir san a öffentlich-rechtliche Anstalt.

Hans-Maria Poborsky:
"Oh, Fränki, steck mir dei Riesenrohr in mein Hois nei, dei Kühlschrank is so voll." Und der kleine Bub schaut zua. I schmeiß mi weg. Und ich dachte immer, meine Alte sei die dreckigste Nutte der Stadt. Da sind wohl heuer mal a paar Blumen fällig.

Regie:
Hansi, Du bist a ganz a erbärmlich's Oarschloch.

Hans-Maria Poborsky:
I bin beim Fernsehn.

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