Ein Anruf aus Düsseldorf
von Esbozo del Tonto

Kapitel
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Ein Anruf aus Düsseldorf

Neunzehn Uhr fünfzehn. Was kann es Schöneres geben, als sich nach einem harten Arbeitstag und dem anschließenden Verzehr eines halben Dutzends Hot Dogs genüsslich die pralle Plautze zu massieren. Fehlt nur noch die obligatorische Zigarette danach. Ich drehe mir sogleich eine. Kein ekelhaft dürres 2-Minuten-Kapillärchen, um den Suchtdämon für den Moment im Zaum zu halten, sondern das herrlich fette Rohr für den Genießer.
Der Gestank von Röstzwiebeln hängt in meiner Bude. Der erste Zug raubt mir den Verstand. Ich bin eins mit meinen Synapsen, vollkommen entspannt. Glücklich? Vielleicht. Zufrieden? Für den Moment. Zeit zum Schwelgen. Ich habe heute keine Lust mehr, das Geschirr zu spülen, das können die Heinzelmännchen erledigen. Ich träume von...

Klingeling!

Das Telefon, die Geißel der Zivilisation, reißt mich aus meinen Nikotinfantasien. Das klappt immer! Eine Dreistigkeit, in diesem Augenblick allerhöchster Intimität anzurufen. Soll ich mich verweigern?

Klingeling!

Bei genauerer Betrachtung kann ich mir das überhaupt nicht leisten, so viele Freunde habe ich nun auch nicht mehr. So hebe ich denn ab und melde mich ordnungsgemäß.

"El soberano del mundo?"

"Guten Abend, mein Name ist ggfhgdfjj von der Firma uzizpwid in Düsseldorf! Spreche ich mit Herrn del Tonto?"

Eine Frauenstimme. Nicht unsympathisch. Aber Vorsicht! Mir schwant Übles. Hurtig schäle ich mich in meinen Kettenharnisch.

"Äh, ja?"

"Haben Sie gewusst, Herr del Tonto, dass sie viel zu hohe Einkommenssteuern bezahlen? Wir von der Firma uzizpwid würden Ihnen das gerne einmal vorrechnen!"

Das ist nun wohl der dritte oder fünfte Anruf solcher Kategorie in diesem Monat. Doch dieses Mal sehe ich mich vorbereitet.

"Das glaube ich kaum, denn schließlich zahle ich überhaupt keine Steuern. Noch nicht einmal Tabak-, Alkohol- oder Vergnügungssteuern. Ich bin nicht umsonst ein arriviertes Mitglied der Cosa Nostra."

"Ach, äh, nun, wenn das so ist, dann entschuldigen Sie bitte die Störung. Ich wünsche Ihnen..."

"Moment! Darf ich fragen, woher Sie meine Telefonnummer haben? Ich meine, stehe ich aus irgendeinem Grunde in einer aus datenschutzrechtlicher Sicht eher als ominös zu bezeichnenden Liste?"

"Es tut mir leid, aber dazu kann ich keine Auskunft geben. Entschuldigen Sie noch einmal..."

"Halt! So billig kommen Sie mir nicht davon! Ich denke, der Anstand gebietet Ihnen, mich bis zum Schluss anzuhören. Finden Sie es eigentlich ethisch-moralisch vertretbar, Ihren Lebensunterhalt damit zu verdienen, willkürlich Menschen, die sie nicht kennen und die Ihnen vermutlich niemals ein Leid zugefügt haben, zu belästigen, zu plagen und zu drangsalieren?"

"Nun, ich weiß nicht, ich tue nur meine Arbeit. Wie jeder andere auch. Was sollte daran verwerflich sein?"

"Ich finde, das ist eine Scheißarbeit, die sie da ausüben. Telefonakquisette rangiert in meiner Liste angesehener Berufe extrem weit unten, sagen wir, irgendwo zwischen Immobilienmakler und Gefängniswärter."

"Das ist Ihre persönliche Meinung. Ich denke, ich werde mich nun verabschieden. Ich wünsche Ihnen noch..."

"Ach, halt's Maul, du dämliche Drecksfotze!"

Der Hörer knallt auf die Gabel. Der habe ich's mächtig besorgt. Mich bei meinem Rohrgenuss zu unterbechen. Da liegt das Mundstück im Aschenbecher. Habe gar nicht bemerkt, wie ich das Kleinod ausgedrückt habe. Gestohlene Zeit.
Die Erregung klingt allmählich ab. Ich überlege mir, wie die Schnecke wohl ausgesehen hat. Während des Telefonierens war ich viel zu eingenommen, um darüber nachdenken zu können. Kein Portrait wollte auf mich einstürzen.
Eine nette Stimme hat sie gehabt. Die ist vermutlich ihr größtes Kapital. Eine erbärmliche Art und Weise, sich sein Brot zu verdienen. Sicherlich bekommt sie tagtäglich noch schlimmere Sachen an den Kopf geworfen als meine profunden Worte. Sie wird so etwas überhaupt nicht persönlich nehmen. Sie wird ein Profi sein. Durch und durch.

Und wenn nicht? Wie würde ich wohl reagieren, wenn ein mir wildfremder Mensch unerwartet meine Intelligenz anzweifeln und mich auf mein Geschlechtsteil reduzieren würde? Möglicherweise bin ich ein wenig über mein Ziel hinausgeschossen. Wer bin ich eigentlich, dass ich mir das Recht herausnehme, meine Mitmenschen zu bewerten?
Allerdings wird niemand gezwungen, eine solche Beschäftigung auszuüben. Oder vielleicht doch? Vermag mir meine beschränkte Fantasie jedwedes mögliche Motiv zugänglich zu machen?

Eventuell hatte sie eine schwere Kindheit. Ihre Eltern starben sehr früh durch einen Autounfall. Sie war ebenfalls im Wagen, überlebte das Unglück jedoch unversehrt. Mit seinem letzten Atemzug hauchte der blutüberströmte Vater ihr die Bitte ins Ohr, sie möge sich nicht grämen ob des herben Verlustes beider Elternteile, sondern die Schule zügig beenden und alsbald das Akquisettenfach einschlagen, weil dort die Heiratsquote für junge Frauen besonders günstig ausfalle. Kann man diese Möglichkeit per se abtun?
Vielleicht stammt sie auch vom Lande und ihre Eltern waren Bruder und Schwester, wie es in abgelegenen Provinzen häufig vorkommt. Oder sie ist aus Bulgarien herübergeflohen und stand plötzlich mutterseelenallein vor der alles entscheidenden Frage: soll ich meinen Körper oder meine Seele verkaufen? Nächtelang hat sie auf ihrer Pritsche im Bordell gelegen und deutsche Radiosendungen nachgeplappert, bis sie unsere Sprache akzentfrei beherrschte. Ein besonders aufmerksamer Freier hat sie schließlich als Telefonakquisette entdeckt. Ich hol Dich hier raus, Mädchen, hat er gesagt und sie hat vor Freude geheult wie ein Schlosshund.

Letzten Endes gerät sie vielleicht wieder auf die schiefe Bahn dank eines arrogantes Arschlochs wie mir, der sie als unzureichend gepflegtes weibliches Geschlechtsteil bezeichnet, nur weil er offenbar momentan einmal mehr auf Besitzerinnen eines solchen Teiles ganz allgemein nicht gut zu sprechen ist.
Bevor ich in Tränen auszubrechen drohe, nehme ich mir vor, die Sache zu löten. Nicht um ihres, vielmehr um meines allerheiligsten Gewissens Willen.

Da sie meine ruppigen Worte vermutlich als Desinteresse am Leistungskatalog ihres Unternehmens gedeutet haben dürfte, bezweifele ich stark, dass sie mich noch einmal aus freien Stücken kontaktieren wird. Und da sie sowohl ihren eigenen als auch ihren Firmennamen wohlweislich vernuschelt hat und ich über keinen dieser neumodischen Telefonapparate verfüge, welche die Rufnummer des Aggressors zu erkennen geben, sehe ich mich außerstande, sie zurückzurufen.
Folglich bleibt mir nur eine Möglichkeit: ich muss meine neue Zeitmaschine in Betrieb nehmen.

Ich werde in die Vergangenheit reisen und jenen denkwürdigen Anruf noch einmal passieren lassen. Zehn Minuten sollten ausreichen, so kann ich auch mein Rohr ein zweites Mal rauchen, ohne ein zweites Mal Steuern entrichten zu müssen, denn ich bin in Wirklichkeit gar kein Mitglied der Cosa Nostra.
Die genaue Funktionsweise der Zeitmaschine ist natürlich streng geheim und erschließt sich selbst mir nur unvollkommen. Diese Tatsache ist für mich jedoch ohne Belang. Schließlich kann jeder Dummspacken ein Fernsehgerät bedienen, ohne auch nur den Hauch einer Ahnung von Radiotechnik zu besitzen. Ich weiß nur so viel: auf Knopfdruck werde ich mich in einer alternativen Realität wiederfinden, in der das Ereignis "Telefonanruf" zehn Minuten später stattfindet als in meiner gegenwärtigen. Das ist auch schon alles, was der Benutzer wissen sollte. Das tiefere Eindringen in die Materie der kausalen Raum-Zeit-Zusammenhänge führe unweigerlich zum Verlust des Verstandes, heißt es ausdrücklich in der Bedienungsanleitung.

Ich gebe die gewünschte Zeitdifferenz als einzigen Parameter in die Konsole ein und das Elektronengehirn sucht im Bruchteil einer Sekunde aus einer Unzahl möglicher Multiversen das passende für mich heraus. Man kann sich leicht vorstellen, dass unendlich viele Realitäten existieren, die sich unendlich dicht in einer Art Metauniversum zusammendrängen, wobei sie sich von ihren Nachbarn jeweils nur durch unendlich kleine Details auf subatomarer Ebene unterscheiden. Folglich kann es auch keinen deterministischen Algorithmus geben, der das Problem "finde das Multiversum, das meinem am ähnlichsten ist unter der Nebenbedingung einer zeitlichen Translation um 10 Minuten in Richtung entgegen des thermodynamischen Zeitpfeils" in endlicher Zeit zu lösen vermag. Man wird sich daher in der Praxis mit einer weniger genauen Navigation zufrieden geben müssen, weshalb auf der ersten Seite der Bedienungsanleitung die folgenden Worte in sperrigen Lettern vermerkt sind:

"Wir übernehmen keinerlei Haftung für Schäden, die aus dem Gebrauch des Gerätes resultieren!
Sobald sie in eine andere Realisationsebene hinübertreten, werden sie ihre vorherige aufgrund der beschränkten Navigationsfähigkeit im Allgemeinen nicht wiedererlangen können. Die neue Realität mag ihnen unter unglücklichen Umständen äußerst fremd vorkommen. Doch in den allermeisten Fällen werden sie kaum einen Unterschied bemerken, denn jede Realität wird durch die gleichen Naturgesetze konstituiert.
Vergleichen wir die Situation mit einem Umzug von einer Großstadt in eine andere. Zwar hat jede Stadt ihren inhärenten Charakter, doch dank fantasieloser Städteplanung und dank des ausufernden Franchise-Konzeptes werden Sie sich in jeder anderen bald ebenso heimisch fühlen wie in ihrer Geburtsstadt.
Aus Gründen der militärischen Geheimhaltung sehen Sie bitte davon ab, ihrem Arzt von dieser kapriziösen Vorrichtung zu berichten. Doch nun viel Spaß mit Ihrer Zeitmaschine!"

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